Die Anfänge der Philosophie im archaischen Griechenland (Protokoll des Seminars mit Wolf-Dieter Gudopp)

Schwere Kost – leicht genießbar gemacht

Wochenendseminar im Naturfreundehaus Leichlingen
mit dem Philosophen Dr. habil. Wolf-Dieter Gudopp-von Behm

Ein Dutzend Freidenker und Sympathisanten trafen sich am 13./14. Oktober 2012 im Naturfreundehaus in Leichlingen (Rheinland) zu einem Philosophie-Seminar mit Wolf-Dieter Gudopp-von Behm, der Mitglied des Deutschen Freidenker-Verbands ist und seinem Beirat angehört. Die Teilnehmer wollten erfahren, wie es mit der Philosophie im antiken Griechenland vor zweieinhalbtausend Jahren angefangen hatte. Ist doch der Anfang eines Prozesses meistens besonders reizvoll und erkenntnisträchtig.

Von Solon bis Parmenides
Die Namen der großen Beginner um 600 v.u.Z. und in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts v.u.Z. sind: einerseits Solon, der „Gesetzgeber“ von Athen, (640-560?) und andererseits in Milet im damals griechischen Kleinasien die Naturphilosophen Thales (624-545), Anaximander (610-545?), Anaximenes (585-525?). Ihnen folgten wenig später große Denker wie Xenophanes (580-488), der vom ionischen Kolophon ins damals westgriechische Süditalien reiste, ferner Parmenides im süditalienischen Elea (ca. 540-480) und Heraklit, zeitgleich im ostgriechischen Ephesus. Die frühgriechischen Denker wollten herausfinden, was die Welt zusammenhält. Wie funktionieren die notwendigen Zusammenhänge und wie der Zusammenhang des Ganzen? Wie kann man das begreifen und in Begriffe fassen? So entstand im Zuge des Herauslösens aus den überkommenen mythischen Vorstellungen das vernunftgemäße Denken, das Ursache und Wirkung der Dinge rational begründet. Es entstand das, was wir Philosophie nennen.

Den großen Denkern des archaischen Griechenlands verdanken wir einerseits die Entdeckung der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Bewegung. Das Wesen des Rechts (griechisch: Dik?) wurde als dialektische Einheit der Gesellschaft und der ihren Zusammenhalt garantierenden, von gesetzmäßigen Wirkkräften bestimmten Regeln entdeckt, eine Entdeckung, die aus der großen Krise Athens und ihrer Überwindung durch Solon geboren wurde. Und zeitgleich erfolgte andererseits die Entdeckung natürlicher Gesetzmäßigkeit aufgrund von Überlegungen zu Ursprung und Beschaffenheit des Kosmos durch die „Schule von Milet“. Auch entbehrten die Anfänge wissenschaftlich-philosophischer Aufklärung nicht des speziell für Freidenker interessanten religionskritischen Aspekts, insofern Xenophanes in einem Gedicht die gängigen Gottesbilder als Erzeugnisse menschlicher Einbildungskraft darstellte, ein Gedanken, der erst über 2500 Jahre später von Ludwig Feuerbach wieder aufgenommen wurde..

Reale Bedingungen des Entstehens der Philosophie
Weshalb gab es den geistigen Schub gerade bei den Griechen und gerade zu dieser Zeit? Diese Frage wurde ausführlich erörtert. Hier nur die wichtigsten Stichworte: Randlage der Griechen im Verhältnis zur antiken orientalischen Welt, aus der sie teilweise stammten (Wie der Mythos von der Entführung der phönizischen Prinzessin durch Zeus erzählt) und deren kulturelles Erbe (z.B. die Schrift) sie antraten, um daraus etwas eigenes völlig Neues zu schaffen. Wandel von der Palastkultur um den Herrschersitz als Mittelpunkt (wie in Homers Ilias und Odyssee beschrieben) zur Kultur der Polis, des Stadtstaates, Aufkommen neuer Bevölkerungsschichten – Händler, Seefahrer, Handwerker, Ackerbauern der umliegenden ländlichen Gebiete – , Revolutionierung des Militärwesens durch Aufstellung der freien Polis-Bürger als gemeinsam kämpfende Hopliten-Phalanx, Fernhandel und Gründung von Ableger-Städten (Kolonisation) rund ums Mittelmeer. Wandel des individuellen Bewusstseins von der Stammeszugehörigkeit zur Identifizierung mit der eigenen Polis. Individualismus der „Ichsager“.

Bekanntes und oft Missverstandenes
Vorkenntnisse wurden von den Seminar-Teilnehmern ausdrücklich nicht erwartet. Aber jeder brachte doch mit, was sich so an verschiedenen philosophischen Gedanken im eigenen Kopf angesammelt hat. Zum Beispiel bestimmte Zitate. So heißt es bei Heraklit, musste man dann aber zur Kenntnis nehmen, nicht einfach, der Krieg sei der Vater aller Dinge, sondern genau übersetzt: „Krieg ist Vater von allen und König von allen. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ Wer bei Heraklit die von Militaristen gern unterstellte Verherrlichung des Krieges und der Sklaverei geargwöhnt hatte, konnte sich belehren lassen: Heraklit ging es um das Prinzip der Dialektik, deren früher Vordenker er war, bei dem sich Hegel, der große Dialektiker der deutschen Klassik zuhause fühlt. Alles wird durch in sich selbst angelegten Widerspruch erzeugt (wie durch einen Vater) und reguliert (wie durch einen König). Für diesen abstrakten Gedanken des Widerspruchs wählt Heraklit die anschauliche Metapher des Krieges, eine reale grausame Tatsache, die in der griechischen Erfahrungswelt stets gegenwärtig war. Und unter dem Zwist zwischen Göttern und Sterblichen sowie Freien und Sklaven konnte sich jeder Grieche etwas vorstellen. Der andere berühmte „Satz des Heraklit“ lautet nicht „Alles fließt“ sondern in korrekter Übersetzung: „Denen, die in dieselben Flüsse hineinsteigen, strömen andere und wieder andere Wasserfluten zu. In dieselben Flüsse steigen wir und steigen wir nicht, wir sind und wir sind nicht.“ Der gedachte Begriff, den die Metapher des Flusses veranschaulicht, bringt zum Ausdruck, was in ständiger Bewegung und Veränderung ist und doch ein geordnetes, sich selbst gleich bleibendes Ganzes, einen Kosmos bildet.

Neue Dimension
Gleichzeitig lehrt im Westen Parmenides, der seine Gedanken in einer in Hexametern verfassten Erzählung vorträgt und diese der Dik?, der Göttin, die das Recht verkörpert, in den Mund legt. Parmenides lehrt: Nichts bewegt sich, und erkennen kann man nur das, was ist, nämlich was und wie es unveränderlich ist. Also scheinbar das Gegenteil von Heraklit, der alles Seiende als durch inneren Widerspruch in Bewegung und Veränderung auffasst. Kein Wunder, dass Lehrbücher Heraklit und Parmenides meistens als die epochalen Gegenspieler darstellen. Gudopp zeigt nun, dass die streitbare Gegenthese des Parmenides den bisherigen Grundkonsens der philosophischen Lehre, der Sophia, verletzt aber zugleich die Gelehrsamkeit um eine Dimension erweitert. Parmenides ist der erste Denker, der das Sein als allumfassendes Abstraktum begrifflich fasst. Damit begründet er den eigentlichen Gegenstand der Philosophie. Philosophie wird, wie Engels sagt, die „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“. Dik? lässt Parmenides wissen: Das Sein ist Eines und es ist gebunden, indem es durch inneren Zwang, durch „Fesseln“, in Grenzen gehalten wird. Die Kugel ist für Parmenides die symbolische Gestalt des Seins. Der Erkenntnis erschließt sich das abstrakte Sein auf besondere Erkenntnisweise, nämlich durch das Noein oder das N?s.  „Denn dasselbe ist Denken und Sein.“ So lautet der bekannte „Satz des Parmenides.“ Auf dieser frühen Erkenntnis, dass Denken und Sein als Einheit des Verschiedenen aufzufassen ist, gründet mehr als zwei Jahrtausende später die materialistische Dialektik des Marxismus.

Entdeckung des Rechts und Begründung der Wissenschaft von der Politik
Viele Jahrzehnte zuvor hatte Solon von Athen in einem elegischen Distichon erklärt: „Das verborgene Maß, mit dem sich die Maßkunst befasst, erschließt sich nur anstrengender Arbeit, – das Maß-Verhältnis, das doch allein es ist, was aller Dinge Grenzen und Proportionen und damit die Dinge selbst hält und erhält.“ Gudopp will dies als den „Satz des Solon“ verstanden wissen, der zeigt, dass Solon als Theoretiker des Rechts (Dík?) und Praktiker der Verfassungsgesetzgebung Athens parallel zu den Naturphilosophen Struktur und Bewegung der „Welt“ ergründet. Für Solon ist Recht (Dík?) der Kosmos, der die Welt der Menschen im Innersten zusammenhält und sie strukturiert und bewegt – immer bedroht und immer von neuem sich durchsetzend. Und auch der Politik geht es wie dem Recht um Regulierung der Verhältnisse des Zusammenlebens. Der Begriff des Rechts begreift die grundlegenden Züge des Politischen. Gudopp schöpft aus seiner jahrelangen Arbeit an seinem Buch über „Solon von Athen und die Entdeckung des Rechts“, mit dem er Maßstäbe gesetzt hat, insofern er nachweist, dass Solon nicht, wie bisher meist, beim Studium der so genannten „Vorsokratiker“ ignoriert werden kann, aber endlich auch als Begründer der Politologie als Wissenschaft anerkannt werden muss. Der „Stoff“ des Seminars ging somit weit über das lehrbuchmäßig Übliche hinaus.
Auf das Erscheinen des Buches über die Philosophen der griechischen Archaik, an dem Gudopp arbeitet, dürfen wir gespannt sein.

Resümee von Klaus von Raussendorff

Aus: freiBRIEF  2012/4, S. 1/2