Helmut Ridder: Juristische Weltanschauung und deutsche Lebenslüge

Helmut Ridder

Juristische Weltanschauung und deutsche Lebenslüge

Georg Fülberth, Interview mit Helmut Ridder in: konkret, Teil I: Heft 10/1994, S. 38-43; Teil II: Heft 11/1994, S. 35-42;[Überschrift der Redaktion]; Zum Weiterlesen: Friedrich-Martin Balzer (Hrsg.): CD: Helmut Ridder für Einsteiger und Fortgeschrittene (enthält Gesamtbibliographie und 100 Veröffentlichungen im Volltext), 2. Auflage, Bonn 2004, 1775 Seiten. Bestellung über www.friedrich-martin-balzer.de.  Ferner erschien 2010 Helmut Ridder, Gesammelte Schriften, hrsg. von Dr. Dieter Deiseroth, Prof. Dr. Peter Derleder, Prof. Dr. Christoph Koch und Dr. Frank-Walter Steinmeier,  Nomos Verlag, Baden-Baden, 799 S. geb., 148,– €, ISBN 978-3-8329-4520-6

Ein KONKRET-Gespräch mit Helmut Ridder
Prof. Dr. Drs. hc. Helmut Ridder, emeritierter Professor für Öffentliches Recht und Politische Wissenschaft an der Universität Gießen, ist der Weiße Rabe unter den Verfassungsrechtlern seiner Generation. Während er in den fünfziger Jahren mühelos in der Ordinarienuniversität aufstieg, geriet er in gleichem Tempo in Gegensatz zur herrschenden Politik. Die Linke – Gewerkschaften, Kommunisten, Außerparlamentarische Oppositionen – hatte fortan in ihm einen zuverlässigen Partner, aber keinen Kumpan. Wenn er Denkfaulheit, Illusionen, Staatsfrömmigkeit und Sprachschlampereien auch in ihren Reihen kritisierte, hörte man gern höflich weg – aus Bündnisräson. Doch er meinte es ernst.

KONKRET hat mit Helmut Ridder ein Interview geführt, das wir hier im Wortlaut veröffentlichen,

Zur Person: Geboren 1919 in Bocholt. 1952-1959 Professor in Frankfurt/Main; 1959-1965 in Bonn, seit 1965 in Gießen.

Veröffentlichungen u.a.: Die verfassungsrechtliche Stellung der Gewerkschaften, 1960; Aktuelle Rechtsfragen des KPD-Verbots, 1966; Die soziale Ordnung des Grundgesetzes, 1975. Helmut Ridder ist Mitbegründer und Mitherausgeber der „Neuen Politischen Literatur“, Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, des Alternativkommentars zum Grundgesetz (2. Aufl. 1989) und eines Kommentars zum Versammlungsrecht (1992).

Politische Tätigkeit: Kuratorium Notstand der Demokratie; 1972-1974 Engerer Vorstand des Bundes demokratischer Wissenschaftler; Auseinandersetzung mit den sog. Berufsverboten; Krefelder Appell. Helmut Ridder war langjähriger Vorsitzender der deutsch-polnischen Gesellschaft der BRD e.V.

KONKRET: Vor einiger Zeit hat „Konkret“ von Ihnen einen Korb bekommen. Wir hätten damals gerne von Ihnen gewußt, wie Sie die Kontakte des Grundgesetz-Kommentators Theodor Maunz zu Gerhard Frey, dem Herausgeber der Deutschen Nationalzeitung und Chef der Deutschen Volksunion, beurteilen. Sie hielten dieses Thema für unergiebig. Weshalb?

RIDDER: Ich hielt es für unergiebig, weil Sie meines Erachtens bei der Fragestellung Opfer bestimmter Spekulationen zur Person und zum Werk von Maunz geworden sind, die nicht zutreffen. Kurz gesagt: Sie glaubten wohl, einem in der Wolle gefärbten Nazi, der bis zu seinem Tod ein verkappter Nazi geblieben ist, postum auf die Schliche gekommen zu sein. Als das Blatt des Herrn Frey seine Enthüllungen lancierte, wurde auch daran erinnert, daß Maunz in den 60er Jahren als bayerischer Kultusminister zurückgetreten ist, nachdem gegen ihn Vorwürfe wegen seiner Publikationen im Dritten Reich erhoben worden waren. Vergessen worden ist dabei, daß Maunz erst eineinhalb Jahre oder vielleicht noch mehr nach diesen Angriffen zurückgetreten ist. Er ist erst dann zurückgetreten, als in der Springer-Presse gegen ihn eine ganz andere Kampagne gestartet worden war. Gegenstand dieser Kampagne war, daß Maunz in seinem Kurzlehrbuch „Deutsches Staatsrecht“ (viele Auflagen!) als einziger der Verfasser entsprechender Lehrbücher für Studenten auch das Recht der DDR behandelte. Erst mit diesem Vorwurf, daß er von dem Gänsefüßchenstaat überhaupt handelte (ganz egal, wie), war die berühmte Wellenlänge Rechts gleich Links, also Braun gleich Rot usw. hergestellt und Maunz dann so richtig im Visier, daß er von beiden Seiten her durch die „Mitte“ herausgeschossen werden konnte aus seinem Amt. Das gehört zur Vorgeschichte dieses Falles, wie es auch gerade zum Selbstbildnis der BRD in der politischen Rhetorik paßte.

Maunz selbst ist ein völlig unorigineller Kopf gewesen, außerordentlich emsig, karrierebewußt und beflissen, der überhaupt keinen ihn persönlich kennzeichnenden Standpunkt gehabt hat. Ich habe im Jahre ‘38 als Student bei ihm in Freiburg gehört. Studenten, die ungeniert und unabgehört ihre Meinungen über ihn untereinander austauschen konnten, sagten damals: Maunz, das ist der Fall eines „treuen Hüters der jeweiligen Verfassung“. Das ist eine Adaption nach einem bekannten Thema von Carl Schmitt, das seinerzeit viel erörtert wurde. Ob von dem, was Herr Frey behauptet hat, alles stimmt, scheint mir außerordentlich zweifelhaft zu sein. Wir haben seither nichts gehört. Irgendetwas wird da dran sein, aber daß da ein regelmäßiges Montagskränzchen stattgefunden haben soll, jahraus, jahrein, das halte ich für höchst unwahrscheinlich.

Die Stellung dessen, was Maunz in der staatsrechtlichen Literatur der Bundesrepublik Deutschland geschrieben hat, im Spektrum der „herrschenden Lehre“ könnte man fast als etwa mittel-halblinks bezeichnen. Das entspricht der Herkunft: ein gewisser Positivismus, sogar auf einer gewissen demokratischen Grundlage nach seinem Lehrer Hans Nawiasky, und Maunz hat sich dann jeweils grenzen- und bedenkenlos opportunistisch angepaßt. Im Jahre ‘44 erreichte er seine stärkste Anpassung an die Position der SS (oberste „Rechtsquelle“ ist der „Führerbefehl“, d.h. praktisch auch der vom Apparat bloß behauptete Führerbefehl etcetera). Und nach dem Jahre 1945 kam dann die Anpassung an das, was in der späteren Bundesrepublik der Mainstream wurde. Aber zu seinen ersten lavierenden Anpassungsversuchen gehört beispielsweise eben auch, daß er im Zusammenhang mit dem Verfassungsstreit um Artikel 41 der Hessischen Verfassung, also den Sozialisierungsartikel, für die Hessische Landesregierung ein Gutachten zugunsten der Verfassungsmäßigkeit eben dieses Artikels 41 gemacht hat. Maunz lag immer richtig. Doch fehlte ihm die Witterung für das Kommende, im Gegensatz zu Carl Schmitt, der der Entwicklung häufig um genau eine Nasenlänge voraus war.

KONKRET: Maunz lag immer richtig. Aber wie liegen Sie? Solange es ein Grundgesetz gibt, haben Sie den größeren Teil Ihrer Arbeitszeit und Arbeitskraft darauf verwenden müssen, dem Publikum zu erläutern, was in diesem Grundgesetz wirklich steht und was eben nicht drinsteht. Ihre Arbeiten lesen sich wie ein jahrzehntelanger Kampf gegen allerlei Projektionen, die von rechts und links in die Verfassung hinein vorgenommen worden sind. Ist das nicht ein sehr frustrierendes Geschäft?

RIDDER: Das ist oft ein frustrierendes Geschäft. Aber es ist auch ein lehrreiches Geschäft, das mich vor dem Ausruhen auf naiven Positionen bewahrt hat. Frustrierend ist es vor allem dann, wenn ich mit denjenigen, die in einem ersten Ansatz, wie man meinen könnte, die Rechtslage so sehen, wie ich sie sehe, in kurzer Zeit über Kreuz komme. Ich meine damit diejenigen Linken, die der juristischen Weltanschauung verfallen sind. Das ist etwas typisch Deutsches. Die Amerikaner haben eine soziologische Weltanschauung, die Deutschen haben eine juristische Weltanschauung. Und diese juristische Weltanschauung wird am meisten kultiviert von den Nichtjuristen. Sie wissen, soweit sie von links herkommen, daß natürlich Recht und Politik stets aufs engste zusammenhängen. Dann gehen sie aber einen Schritt weiter und können Recht und Politik nicht mehr voneinander unterscheiden. Von da an ist der Weg für sie gedanklich frei zur Instrumentalisierung des Rechts und zur Verkennung der zivilisatorischen Kraft des Rechts überhaupt. Daß das Recht diese zivilisatorische Kraft nur haben kann, wenn es wirklich qua Recht nur Form ist und nicht Inhalt, das haben diese Linken nicht begriffen. Methodisch machen sie dasselbe wie die Rechten, nur daß sie die „Stoßrichtung“ – ein sehr beliebtes Wort – ändern. Und damit tragen sie dazu bei, daß sie in die Messer hineinfallen, die sie selbst aufgestellt haben.

KONKRET: Können Sie bitte ein Beispiel geben?

RIDDER: Ein großes Beispiel: Der Streit um die sogenannten Berufsverbote. Ich selbst habe in dem Zusammenhang, um den es hier geht, den Begriff „Berufsverbote“ nicht gebraucht, der ja durchaus seinen Sinn hat; so kann zum Beispiel einem wegen schwerer schuldhafter Kunstfehler verurteilten Arzt auch die weitere Berufsausübung strafgerichtlich untersagt werden.

Die sogenannten Berufsverbote nach dem Ministerpräsidentenbeschluß von 1972 hingegen machten die Berufsausübung im Öffentlichen Dienst „nur kostenpflichtig“. Die wegen legaler politischer Betätigung zu „Verfassungsfeinden“ gemachten Opfer konnten sich durch Verzicht auf jedermann gratis zustehende demokratische Grundrechte „loskaufen“. Die Betroffenen, das war im wesentlichen die DKP und ihr Umfeld, haben nicht grundsätzlich und vor allen Dingen nicht theoretisch gekämpft. Es wurde das dahinterstehende Theorem von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht auf die Hörner genommen und in Frage gestellt, durchaus auch wohl aufgrund der Überlegung: „Aber wenn wir dran wären, dann würden wir die andere Seite dieses Berufsverbot schon spüren lassen. Warum? Wir sind doch schließlich viel bessere freiheitliche Demokraten als die“. Schließlich hatten auch die auf eine andere „Stoßrichtung“ hoffenden KPD-Grundgesetzväter nichts gegen „streitbare“ Aufrüstungen der Verfassung einzuwenden gehabt (an denen die Demokratie zugrunde geht, wenn sie langfristig eingesetzt werden).

Was ist freiheitliche Demokratie? Nichts Liberales. Freiheitliche Demokratie ist weniger Demokratie. Im Namen der freiheitlichen Demokratie werden bestimmte demokratische Institute verkürzt. Im Namen der freiheitlichen Demokratie wird legales Verhalten so behandelt, als ob es illegal wäre. Und das alles wird gestützt auf einige Fundstellen im Grundgesetz, wo die ‘freiheitliche demokratische Grundordnung‘ vorkommt und in einem sehr engen Bereich („Parteiverbot“ und „Grundrechtsverwirkung“) und gebunden an strikte verfassungsprozessuale Voraussetzungen Eingriffe erlaubt wurden, was aber alles – ich kann das jetzt nicht näher ausführen – bei der Berufsverbotswelle 1972 ff. nicht gegeben war. Diese Welle diente der auf Bundesebene „regierungsfähig“ gewordenen und mehr denn zuvor unter Abgrenzungsneurosen leidenden SPD bei der Bewachung ihres linken Rands.

KONKRET: Na und? Sie können ja schlecht leugnen, daß die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ im Grundgesetz drinsteht. Sie ist also ein Teil des Grundgesetzes. Hier handelt es sich eben gerade mal nicht um eine Projektion, die von rechts oder links in die Verfassung hinein vorgenommen wird.

RIDDER: Richtig. Da muß man dann aber genauer untersuchen, was das denn überhaupt heißen soll: Freiheitlich-demokratische Grundordnung als normatives Verfassungsgebot. Das könnte doch nur dann einen Sinn haben, wenn man in der Lage ist, der freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine unfreiheitliche demokratische Grundordnung gegenüberzustellen. Dann ist die Frage, ob es eine unfreiheitliche demokratische Grundordnung geben kann. Daß mit diesem unglückseligen „Freiheitlich“ etwas nicht in Ordnung sein kann, das merkt doch schon der mit einem normalen Intelligenzquotienten ausgestattete Grundschüler. Freiheitlichkeit hat mit Freiheit so viel oder so wenig zu tun wie Schönheitlichkeit mit Schönheit. Oder versuchen Sie einmal, einen bayerischen Patrioten davon zu überzeugen, er wäre mit einem Reinheitlichkeitsgebot für Bierbrauen besser bedient als mit dem Reinheitsgebot. Freiheitlichkeit ist eine pragmatische Freiheit, in der es so viel Unfreiheit geben kann, wie die Staatsräson fordert, um die Sache auf den Punkt zu bringen.

Dieses „freiheitlich“ stammt aus der politischen Rhetorik der Nationalliberalen, die sich mit wendehalsiger Fixigkeit an der Ernte aus der bellikosen Reichsgründung von 1871 beteiligen wollten. Den geradlinig Konservativen – eine in Deutschland längst ausgestorbene species – war es wegen seiner Schmuddeligkeit zuwider; im „Stechlin“ (1899!) läßt Theodor Fontane den in Rechtschaffenheit verarmenden Dubslav von Stechlin sagen, „freiheitlich“, das sei ihm doch „ein zu dolles Wort“. Es ist in das Grundgesetz hineingekommen durch polemische Auseinandersetzungen schon während der Entstehung dieses Grundgesetzes. Das geschah im Hinblick a) auf die NS-Vergangenheit und b) auf das, was sich abzuzeichnen begann in der SBZ. So heißt es in den ersten Kommentaren auch sinngemäß: Freiheitliche demokratische Grundordnung sei alles das, was wir haben und was sich unterscheidet von dem, was früher bei uns gewesen ist, und von dem, was jetzt drüben sich in der SBZ/DDR entwickelt. Und damit wird aus der fdGO bald ein Synonym für den besitzständischen Status quo des Systems. Ich darf nicht verhehlen, daß mir das erst allmählich aufgegangen ist (wofür ich auch den intelligenten Grundschülerfragen meiner Studenten zu danken habe).

KONKRET: Da fragt sich aber doch: Wie demokratisch ist denn dann das ursprüngliche Grundgesetz, unabhängig von allem, was nach 1949 daraus gemacht worden ist?

RIDDER: Auf jeden Fall ist auch schon dieses ursprüngliche Grundgesetz vom Mai 1949 weniger demokratisch als die ihm seit 1946 vorausgegangenen west- und ostdeutschen Landesverfassungen. Was in Bezug auf die Grundrechte oder in Bezug auf die Wirtschaftsverfassung etwa in der Hessischen Verfassung stand (und übrigens noch steht, aber toter Buchstabe geworden ist), das sind ja Riesenkataloge von Demokratisierungen in Auseinandersetzung mit der Verfassung und der politischen Praxis von Weimar, die sich allerdings noch kaum hatten entfalten können, als das Grundgesetz ihnen wie eine Zwangsjacke übergestülpt wurde, unter der sie erstickten.

KONKRET: Es markiert also nicht einen hoffnungsvollen Neuanfang, der erst in der Folgezeit vergeigt worden wäre?

RIDDER: Nein. 1945 war die Verfassungsfrage offen, weil durch die mit der militärischen Niederlage -verbundene Beseitigung des NS-Regimes auch die Chance eines Neubeginns gegeben war. Sie wurde verpaßt.

Das Grundgesetz besiegelte die Rückwärtsentwicklung zu der Verfassungswirklichkeit hin, die mit der restaurierten Wirtschaftsordnung gekommen ist. Das ist auch der Sinn des Grundgesetzes. Die Gründung der Bundesrepublik mit dem Grundgesetz war ein sehr erfolgreicher Rettungsversuch für Westdeutschland gegenüber dem, was an demokratischen „Gefahren“ in den Landesverfassungen drin war. Ich spreche wohlgemerkt von einem Trend, der im Rückblick immer deutlicher erkennbar wird.

KONKRET: Sie meinen also, daß schon mit der Schaffung des Grundgesetzes unter den Bedingungen, unter denen sie geschehen ist, eine Gesellschaft, die rechts von den Landesverfassungen von 1946 ff. stand, wieder angefangen hat, Verfassungsrecht zu sich herüber nach rechts zu holen?

RIDDER: Ja. Natürlich braucht man auch eine Verfassungsentwicklung, das ist ganz klar. Aber bei uns ist das so verderblich u.a. deswegen, weil bestimmte Dinge im Grundgesetz drinstehen, die eigentlich nicht oder allenfalls ohne rechtsnormativen Rang in einer Präambel stehen dürften, weil es sich um Einfallstore für den Zeitgeist handelt. Die aber deswegen drinstehen, weil die Deutschen erstens (ich wiederhole mich) eine juristische Weltanschauung haben. Vor allem die Politiker, die keine Juristen sind, denen die Jurisprudenz aber zur Hand geht. Und weil die Deutschen zweitens auch noch schulmeisterlich lehrhaft sind. Davon waren übrigens auch diese Landesverfassungen nicht ganz frei, die ich nicht über den grünen Klee gelobt haben möchte. Schauen Sie sich beispielsweise in der Hessischen Verfassung nur mal an, was da steht über die Verabschiedung von verfassungswidrigen Gesetzen. Da steht an einer Stelle der Satz, daß die Errichtung einer Willkürherrschaft, welcher Art auch immer, verboten ist. Da faßt man sich doch an den (hoffentlich erwachsenen) Kopf.

KONKRET: Wieso?

RIDDER: Weil sowas genau so kindsköpfig und geschichtslos konzipiert ist wie ein verfassungsrechtliches -Verbot von Revolutionen. Ich bringe jetzt gleich ein einschlägiges grundgesetzliches Beispiel: In dem berühmten Artikel 20 des Grundgesetzes, das habe ich früher etwas positiver gesehen, als ich es heute sehe, steht drin, daß die Bundesrepublik ein demokratischer Bundesstaat ist (=sein soll). Wo finden Sie ein normatives Demokratiegebot in anderen Verfassungen? Wir wollen unseren offenkundigen Demokratiebedarf, dem nur durch demokratische Bewußtseinsbildung grundlegend abzuhelfen ist, also grundlegend durch eine justiziell (= „rechtsstaatlich“) überwachte Erfüllung staatlicher Gebote gerecht werden. Das ist natürlich alles ganz fürchterlich. Und bei der Kontrolle hat dann auch noch die Verfassungsgerichtsbarkeit das praktisch normsetzende letzte Wort. Sie tut das „Demokratieprinzip“ in einen großen Topf mit immer mehr Heiligtümern und dann geht es los: „Ja, das demokratische Prinzip sagt dies, aber das rechtsstaatliche Prinzip sagt das“ undsoweiter. Je nach den Erfordernissen des Einzelfalles kann man das eine oder das andere oder noch ein anderes im übergrundgesetzlichen Kosmos der Heiligtümer enthaltenes „Prinzip“ siegen lassen. Oder, noch schöner: es siegt das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das ja auch sprachlich schon ein tolles Stück ist; es siegen die Verhältnisse, die so sind, wie sie sind.

KONKRET: Jetzt sind Sie inzwischen vom Text des Grundgesetzes zur Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts gekommen.

RIDDER: Sicher, geradezu zwangsläufig, denn es spielt in diesem Prozeß der restaurativen Verfassungsveränderung längst eine zunehmend wichtiger werdende Rolle. Seine Methode der Versöhnung von Verfassungsrecht und sogenannter Verfassungswirklichkeit ist ein Erbstück aus der schon vor 1933 kreierten illiberalen „Integrationstheorie“ von Rudolf Smend. Das läuft dann so: Zunächst wird immer zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit eine Mitte gesucht. Auf diese Mitte einigt man sich, man erklärt sie zum Verfassungsrecht. Und im selben Augenblick, wo man sie zum Verfassungsrecht gemacht hat durch die Rechtsprechung, hat sich die gesellschaftliche Entwicklung schon weiter nach rechts verschoben, und schon ist ein neuer Spannungsbogen da. Dann wird von diesem neuen Verfassungsrecht zu dem, was sich weiterentwickelt hat, wieder eine neue Mitte gesucht, undsoweiter. Auf diese Weise entwickelt sich das ganze um die beiden großen „Volksparteien“ zentrierende Verfassungswesen, die „Mitte der Verhältnisse“, von links nach rechts. Die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts hat dahin geführt, daß wir nach einer Periode sehr zahlreicher förmlicher Grundgesetzänderungen seit einem Vierteljahrhundert nur noch wenige Grundgesetzänderungen gehabt haben. Die restaurativen Verfassungsänderungen organisatorischer Art schließen mit den Notstandartikeln von 1968 ab. Dann ist das vorbei. Alles das, was organisatorisch änderbar war, ist bis dahin geändert worden im Sinne der weiteren Rechtsentwicklung.

Jetzt hätte man nur noch an die Grundrechte gehen können. Das brauchte man aber gar nicht. Denn die Grundrechte, wie Grundrechte überhaupt, insbesondere aber dann, wenn sie so kurz und allgemein formuliert sind wie im Grundgesetz, die sind ja durch Interpretation relativierbar. Und diese Relativierung der Grundrechte, das ist ein Geschäft, das die unanfechtbare Judikatur des Bundesverfassungsgerichtes übernommen hat, ohne daß das Parlament zu einer in den Text eingreifenden Verfassungsänderung bemüht werden mußte.

Dieses Bundesverfassungsgericht ist heute die Inkarnation des Monarchen. Das ist die Fortsetzung des monarchischen Legitimationsprinzips. Das hat doch mit Demokratie nichts zu tun, weil es die Dialektik von richterlicher Gesetzesunterworfenheit und aktueller Weisungsfreiheit beseitigt.

Wenn ich das sage, bin ich mir natürlich darüber im klaren, daß es nicht wünschenswert sein könnte, daß das Bundesverfassungsgericht von einem Moment zum anderen entschwindet. Aber man müßte, wenn man Demokratie will, die Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes mindestens auf einen Normalstand von Verfassungsgerichtsbarkeit bringen – wie in den USA. Die sind nämlich insofern ein Normalstaat. Da greift das Verfassungsgericht, der Supreme Court, der ein Bestandteil der normalen Gerichtsbarkeit ist, mal ein in wirklich ganz, ganz wichtige, die Nation bewegende Fragen, also z.B. in punkto Rassentrennung, und trifft ad hoc eine Entscheidung, nach der man sich in künftigen Fällen auch faktisch richtet. Und damit hat es sich dann auch. Aber niemals behauptet jemand, daß diese Entscheidung rechtlich mehr als die Entscheidung des vorliegenden Falles ist. Bei uns dagegen gehört das Bundesverfassungsgericht mittlerweile zum täglichen Geschäft des politischen Betriebs, den es einerseits an seine Vorgaben bindet und der andererseits zu ihm seine Zuflucht nimmt, um politische Verantwortung Richtern zuzuschieben, die als solche ja nicht politisch verantwortlich und die unabsetzbar sind.

Erst wenn man diese Alltagspräsenz der Verfassungsgerichtsbarkeit durchlöchert, gelockert, beseitigt hat, kann das parlamentarische Prinzip sich durchsetzen. Wir sind eben keine parlamentarische „bürgerliche“ Demokratie.

Wir sind es nicht, solange wir diese praktisch allzuständige und immer zuständige Verfassungsgerichtsbarkeit haben.

KONKRET: Das heißt, was politisch passiert, kann immer wieder mitgesteuert werden durch einen Ersatzsouverän?

RIDDER: Ja, und für jede Sache findet sich schließlich jemand, der sie mit der Verfassungsbeschwerde nach Karlsruhe bringt. Es ist etwas anders als in Weimar. In Weimar hatten wir im gleichen Text eine Hauptverfassung und eine monarchische Nebenverfassung. Die Nebenverfassung bestand in dem „Diktaturartikel“ 48. Das war immerhin klar und übersichtlich, wurde aber, langfristig eingesetzt, zur Gleitschiene ins „Dritte Reich“. Diese Nebenverfassung ist bekanntlich für etwa die Hälfte der Zeit von Weimar eingeschaltet gewesen. Da war die Hauptverfassung abgeschaltet. Von einem normalen amerikanischen Rechtsliberalen wie David Riesman kann man lernen, daß Durchbrechungen der Verfassungsnormalität in extremis mal, aber wenn, dann nur ganz kurzfristig, geschehen dürfen. Erfolgen sie permanent, dann ist es mit der Normalität für immer aus. Bei uns nun ist die Verfassungsgerichtsbarkeit, der juristisch-klinische Ersatz für den Diktaturartikel von Weimar, permanent und permanent widersprüchlich mit den grundgesetzlichen Vorkehrungen für eine parlamentarische Demokratie verschraubt. Sie ist sicher ungleich milder als die Notverordnungsdiktatur von Weimar und baut natürlich auch einer Reprise von 1933 vor. Aber sie verrammelt auch das Tor zur lebendigen Demokratie und verschafft dem monarchischen Legitimationsprinzip apokryph die Oberhand.

KONKRET: Das heißt, das Bundesverfassungsgericht tritt an die Stelle des Reichspräsidenten mit seinem Artikel 48?

RIDDER: Ja, das kann man in einer gewissen Weise sagen.

KONKRET: Was macht in einer solchen Situation eigentlich ein demokratischer Verfassungsrechtler? Ist er nicht mit seinem Latein am Ende und müßte demokratischer Revolutionär werden?

RIDDER: Na ja, also erstens bin ich ja Lehrer. Als Lehrer bin ich hinreichend mit Aufklärung beschäftigt und mit dem Nachweis, wie weit dieselbe hinter der Postmoderne der FAZ zurückgeblieben ist. Ich bleibe lieber präpostmodern. Ich lasse mich nicht von der Ansicht berauschen, daß die Dinge deswegen, weil sie so sind, wie sie sind, deswegen auch rechtens so sind. Ich bestreite, daß es zu der vorhandenen Realverfassung, wie sie gerade ist, keine Alternative geben kann, die auch verfassungsmäßig wäre. Das zu zeigen ist jetzt wieder sehr schwierig. Denn es gab und gibt im Bannkreis der Juristischen Weltanschauung viele Gutmeinende, die, wie einst schon Adolf Arndt, der große Advokat in den frühen Jahren der BRD, meinen, das Grundgesetz müsse „erfüllt“ werden. Was heißt denn das? Was zum Beispiel das Verhältnis von sogenannten Arbeitnehmern und Arbeitgebern angeht, gilt Art 9 Abs. 3 GG als „erfüllt“, wenn die Tarifautonomie gewahrt ist, die in Art. 9 Abs. 3 mit diesen Worten übrigens nicht einmal drinsteht. Basta. Darf man über eine alternative „Erfüllung“ nicht einmal mehr nachdenken? Dann tritt die „Erfüllung“ (auch „Konkretisierung“ genannt) definitiv an die Stelle der Norm; aber Normen müssen befolgt, jedoch nicht „erfüllt“ werden. Da werden Alternativen verhindert – ein Vorgang, dem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer wieder Vorschub leistet.

KONKRET: Das heißt, Sie interessiert das Grundgesetz als Form, in der man sich frei bewegen kann, und nicht, was innerhalb dieser Form passiert.

RIDDER: Sagen wir so: Für mich bleibt auch das Grundgesetz, wie noch 1929 für meinen väterlichen Freund Otto Kirchheimer die Reichsverfassung, ein „Buch der Möglichkeiten“, die nicht obsolet werden müssen, aber nicht wahrgenommen werden können, wenn a-historische Revolutionsphobie den Blick dafür verstellt, daß die „klassischen“, „bürgerlichen“ Demokratien des Westens auf dem revolutionären Bruch mit dem monarchischen Legitimationsprinzip gründen.

KONKRET: Der Zusammenhang von Eigentumsordnung und Demokratie beschäftigt Sie offenbar wenig, oder irre ich mich da? „Kapitalismus muß weg“ – so skandierte der SDS im Mai 1968 in Ihrer Anwesenheit im Bonner Hofgarten. Ihr Ding war das offensichtlich nicht, oder?

RIDDER: Das interessierte mich unter anderem deswegen wenig, weil diese Perspektive aus einem Wolkenkuckucksheim kam. Da hielt ich es doch für sinnvoller, mir Gedanken über die Voraussetzungen von Demokratie unter den Bedingungen einer kapitalistischen Wirtschaft zu machen. Demokratie kann es nur geben in einer Gesellschaft, aus deren Kollektivbewußtsein eine Größe ausgeschaltet ist, die bei allen Deutschen, Linken und Rechten, ihr verhängnisvolles Unwesen treibt. Das ist der Staat. Das ist die Idee von einem zeitlos und kontinuierlich auch den wechselnden politischen Systemen vorgegebenen und somit nach innen „souveränen“ Staat, dessen Gewalt (oder „Prärogative“) von den Verfassungen nur begrenzt, aber nicht konstituiert wird. Typisch deutsch ist also das antirevolutionäre Märchen vom sogenannten Gewaltmonopol des Staates. Herr Schily hat sich bei den Grünen so lange unwohl gefühlt, weil die in dieser Frage keinen klaren Standpunkt hatten, und landete folgerichtig bei den Sozialdemokraten, die das Gewaltmonopol des Staates bejahen, deshalb mit Recht zu den „staatstragenden“ Parteien gezählt werden und sich schon in Weimar zu Tode geschämt hätten, wenn der 9. November 1918 als revolutionärer Beginn der Republik gefeiert worden wäre – wie der Sturm auf die Bastille in Frankreich, die gewaltsame Trennung der USA von der kolonialistischen Metropole und die Kapitulation der Monarchie in England vor der „Glorreichen Revolution“ parlamentarischer Kräfte.

Das ist doch ein ungeheuerliches Ding, dieses Gewaltmonopol des Staates. Wo steht denn das? In der Rechtsordnung steht nur, daß bestimmte Instanzen und bestimmte Personen unter bestimmten Voraussetzungen Gewalt anwenden dürfen. Jeder darf Gewalt anwenden, zum Beispiel als Notwehr. Eltern dürfen gegenüber ihren Kindern in einem bestimmten Umfang Gewalt anwenden. Wenn mir jemand was wegnimmt, dann darf ich den auf frischer Tat verfolgen, um ihm das wieder abzunehmen, was er mir weggenommen hat, auch dann übe ich eine Form von Gewalt aus. Und das sind alles Fälle von rechtlich erlaubter und in ihrem Umfang rechtlich geregelter Gewaltausübung. Aber hinter der erpresserischen Gretchenfrage nach dem Gewaltmonopol des Staats steckt, der ideologischen Inquisition meist nicht einmal bewußt, der monarchische Mythos von einem über dem Recht stehenden Staat. Und der steckt zum Beispiel dahinter, wenn die Deutschen mit dem Phänomen des Individual-Terrorismus umgehen. Da hat also ein Individualterrorist irgendeine Gewalttat begangen wie Mord, Totschlag, räuberische Erpressung oder was sonst. Was wirft man dem vor? Dem wirft man nicht nur vor, Mord, Totschlag undsoweiter begangen zu haben. Die dröhnende politische Rhetorik wirft ihm zusätzlich vor, einen „Angriff auf den Rechtsstaat“ geführt zu haben, als ob nicht schließlich jeder, der sich dem Gesetz nicht fügt, also das Gesetz bricht, eo ipso einen Angriff auf den Rechtsstaat führte. Dem Individualterroristen wirft man (ohne es zu artikulieren) in Wahrheit vor, daß er dem Staat das Gewaltmonopol streitig macht. Aber diese politische Sünde ist kein Delikt des deutschen Strafgesetzbuches, das gibt es in keinem Strafgesetz als Delikt. Der Individualterrorist tritt als Rivale des Staates auf und wird damit rechnen können, daß ihm das einen Zuschlag beim Strafmaß einträgt. Was ist das für ein „Rechtsstaat“, zu dessen Staatsgütern das rechtlich gerade nicht geschützte staatliche Gewaltmonopol gehört?

KONKRET: Seit Jahrzehnten sind Sie auch ein praktischer Politiker. Aber Sie blieben immer in außerparlamentarischen Bewegungen, die allesamt ihr jeweils aktuelles Ziel nicht erreicht haben. Sie sind alle Abweichler im Verhältnis zur offiziellen Politik. Wann begann für Sie diese Abweichung? Was trieb Sie, und was treibt Sie?

RIDDER: Die Abweichung beginnt erst nach der Gründung der Bundesrepublik und fällt unter die ersten vier Jahre einer bundesrepublikanischen Regierung. Mich empörte am meisten die kühle, zynische und hinterhältige Hinwendung Adenauers zur Wiederbewaffnung, die alsbald vom „Korea-Schock“ profitieren konnte. Hintenrum, über die Bonner und Pariser Verträge, auf einem trickreichen Weg der Annahme dieser Verträge, ist die Wiederbewaffnung als „Wehrbeitrag“ zu einem Bündnissystem zustande gekommen, welch letzteres zwar von der oppositionellen SPD, die jedoch ihre prinzipielle Zustimmung zur Wiederaufrüstung auch schon 1950 durch Kurt Schumacher verklausuliert kundgetan hatte, abgelehnt wurde. Theodor Maunz, um noch einmal auf ihn zurückzukommen, schrieb übrigens damals – wie viele andere hatte er die „Erdrutschwahlen“ des Jahres 1953 nicht vorausgesehen -‚ man müsse angesichts der zur Wiederbewaffnung praktizierten Methodik „schamrot“ werden.

Ihre Bemerkung, daß das Meiste von dem, wo ich mitgewirkt habe, keinen Erfolg hatte, ist falsch. Das Meiste hat Erfolg gehabt, und oft sogar sehr großen. Ich nenne nur die Kampagne gegen die Notstandsgesetze und die Notstandsverfassung in den sechziger Jahren. Da hat die Opposition schon gleich am Anfang Erfolg gehabt. Die 1958 erstmals publizierte ursprüngliche Absicht von Gerhard Schröder, dem damaligen Innenminister, war nämlich eine Neuauflage von Artikel 48 WRV, die wiederum, während das Kriegsgespenst an die Wand gemalt wurde, ein handliches Mittel zur Bekämpfung innerer Notstände im Frieden werden sollte. Bündniskonstellationen, die der Aufmerksamkeit anderer zu verdanken waren, wurden mir sehr hilfreich, so etwa eine Verbindung mit der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler. Von ihr bin ich damals darauf gestoßen worden, was da anlief; ich selbst hatte das Heraufziehen der Gefahr geradezu verschlafen. Und siehe da: die ursprüngliche Idee Schröders war alsbald tot. Alles andere, was danach von Regierungsseite kam, diese immer neuen „Formulierungshilfen“ aus dem Innenministerium, das waren über Jahre sich hinziehende Rückzugsgefechte, defensive Versuche, die Scharte auszuwetzen, die dadurch entstanden ist, daß die Idee, einfach den Artikel 48 in einer modischen Verkleidung wieder herzustellen, schon gescheitert war. Die erste Etappe des aktiven Widerstands gegen den reaktionären Vorstoß war damit, noch bevor es mit Unterstützung der Gewerkschaften und der akademischen Jugend zu Massendemonstrationen hatte kommen können, erfolgreich abgeschlossen. In der zweiten Etappe, an deren Ende die von Ihnen erwähnte Kundgebung im Bonner Hofgarten liegt, mußte versucht werden, den Ersatz für die torpedierte Erneuerung des Art. 48 unschädlich zu machen, dem zuzustimmen die in eine Bundesregierung der Großen Koalition integrierte SPD wild entschlossen war, um letzten Zweifeln an ihrer „Regierungsfähigkeit“ auf Bundesebene zu begegnen. Auch das ist gelungen, und zwar, wie wenig bekannt ist, u.a. mit Hilfe der parlamentarischen Opposition in Gestalt der FDP, deren Existenz unter der Koalition der beiden „Volksparteien“ zeitweilig am seidenen Faden hing, gab es doch Pläne, ihr das Lebenslicht durch ein auf Personenwahl umgestelltes Wahlrecht auszublasen. Es hat sich für sie gelohnt, sie konnte die Gefahr hinter sich lassen und sich in Kürze zum Kippschalter zwischen den „Volksparteien“ entwickeln. Aber es hat sich auch sub specie der Demokratie gelohnt. Denn der Ersatz war nur noch ein „Verteidigungsfall“, für den er im übrigen wegen seiner Kompliziertheit unbrauchbar ist und für den vorzusorgen nicht das primäre Anliegen der Befürworter gewesen war. Kann man das Ganze nicht einen Erfolg nennen? Auch wenn es den Protestierenden nicht gelungen ist, das ganze Thema vom Tisch zu kriegen? Der Erfolg einer Widerstandsbewegung bemißt sich nicht nach der Differenz zwischen den von ihr proklamierten aktuellen Zielen und dem am Ende Erreichten, sondern zwischen dem Erreichten und dem, was ohne Widerstand mit hochgradiger Wahrscheinlichkeit eingetreten wäre.

KONKRET: Sie wiesen und weisen immer wieder darauf hin, daß die Deutschen nicht den Bruch einer demokratischen Revolution gehabt haben, und damit fehle die Voraussetzung einer demokratischen Verfassung, es gebe vordemokratische Kontinuität. Was sagen Sie dann aber zu Großbritannien? Gemäßigte deutsche Liberale haben doch immer wieder beruhigend darauf hingewiesen, daß dort über die Jahrhunderte hinweg eine wundervolle Kontinuität herrsche, in welche demokratische Elemente, etwa die Ausdehnung des Wahlrechts, doch nur sehr, sehr vorsichtig, man nennt das wohl behutsam, einbezogen worden seien.

Zweitens weisen Sie immer wieder darauf hin, daß in Deutschland die demokratische Willensbildung, und sei sie auch ausschließlich parlamentarisch, durch andere Instanzen außer Kraft gesetzt werde, sei es – in Weimar – die Exekutive, sei es, in der BRD, das Bundesverfassungsgericht. Gilt Ähnliches nicht auch für Frankreich? Marx hat darauf hingewiesen, daß die Französischen Revolutionen niemals die von Absolutismus geschaffene Exekutive zerschlagen haben, sondern immer nur übernommen. Insofern besteht doch auch in Frankreich eine vordemokratische Kontinuität.

RIDDER: Fangen wir mit dem britischen Beispiel an. Es ist richtig, daß dort nach der Befestigung der Parlamentssuprematie durch die „Glorreiche Revolution“ das Unterhaus erst allmählich und in Schüben zu einer demokratischen Volksvertretung geworden ist, die nach allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählt wird, während die Kompetenzen des nicht gewählten Oberhauses einschrumpfen. Ich habe das Jahr 1948 in England verbracht; in diesem Jahr fielen die letzten Reste ungleichen Wahlrechts, nämlich die Zusatzstimmen für die Angehörigen der universitären Korporationen Oxford und Cambridge (ich kann bezeugen, daß sie deswegen keinen Aufstand geprobt haben). Diese manchmal heftig umkämpfte, aber kontinuierliche Entwicklung von Demokratie im Parlament vollzog sich unter den Bedingungen einer flexiblen, nicht formell höherrangigen, nicht kodifizierten Verfassung, die mithin zur Disposition des Parlaments steht und nicht verfassungsgerichtlich mit bindender Wirkung überwacht wird. Nach der Methode: Anbauen und Umbauen, soweit erforderlich, aber nicht Abreißen und Neubauen. Sie ist in der Tat liberal, aber ohne nationalliberale Beulen im Rückgrat. Manchen Leuten in Großbritannien, die gerne kapitalistische wirtschaftliche Zustände vor Interventionen des parlamentarischen Gesetzgebers absichern wollen, ist die Flexibilität der Verfassung natürlich ein Dorn im Auge. Sie haben versucht, und das ist ihnen, wie ich mit großer Freude und Anerkennung feststelle, nicht gelungen, da einen Einbruch zu erzielen durch die Propagierung der Idee einer geschriebenen Verfassung, mit der sie die entsprechenden Freiheitsrechte „entrenched” machen wollten. „Entrenched” heißt: mit Schutzwällen versehen, wie sie die Verfassungsgerichtsbarkeit bei uns mit Hilfe der „geschriebenen“ Verfassung um den Status quo zieht. Das hat aber nicht einmal Mrs. Thatcher auf unenglische Gedanken gebracht. Wenn Sie ein englisches Lehrbuch des Verfassungsrechts (das heißt dort natürlich nur Verfassungsrecht und nicht Staatsrecht, Constitutional Law und nicht Law of the State oder ähnlich Wahnsinniges, was nur Lachsalven hervorrufen könnte) zur Hand nehmen, in einem solchen Buch finden Sie auf 300 Seiten eine einzige Seite oder vielleicht auch zwei über die Eigentumsfreiheit. Auch heute noch. Sollte irgendwann einmal eine Labour-Mehrheit im Parlament in Bezug auf die Eigentumsverfassung ein revolutionäres Gesetz beschließen, dann würde das keinen Aufruhr im Recht geben. Dann läge das in der Souveränität des Parlaments; und es könnte das von heute auf morgen geschehen. Bei uns hingegen wurde von der in Grundrechten schwelgenden Staatsrechtsjurisprudenz völlig vernachlässigt, daß im Grundgesetz wie in der Weimarer Verfassung ja auch steht, daß Inhalt und Schranken des Eigentums durch die Gesetze bestimmt werden. Schon in Weimar dekretierte sie freischöpferisch, daß der parlamentarische Gesetzgeber individuelle Eigentumsrechte zwar beliebig vermehren, aber nur so weit wieder herunterfahren darf, daß das sogenannte Institut Eigentum nicht verletzt wird. Um diesen Kern herum hat die Jurisprudenz der BRD eine tief gestaffelte Festung gebaut. In Verbindung mit dem nicht konsumtiven Eigentum (= „Kapital“) wird zum Beispiel auch die „Berufsfreiheit“ des Unternehmers und seine „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ geschützt undsoweiter. Was über die Aufblähung der Grundrechte diesem Eigentumsschutz zugute kommt, geht der Legalitätsreserve des parlamentarischen Gesetzgebers bei eigentumsaffizierenden Interventionen in die „Naturwüchsigkeit“ der „freien Marktwirtschaft“ verloren. Das alles gibt es in England eben nicht.

Jetzt zu Frankreich. Sie sagen, da ist eine starke, auch von den Republiken aus dem Absolutismus übernommene Exekutive. Gewiß. Aber woran ist die Exekutive gebunden? Ist sie ans Gesetz gebunden? Oder gibt es neben den Gesetzen noch irgendeine Schiene, auf der die Exekutive durchgreifen kann und wo der Staat sich dann wieder absolut setzt? Das kann in Frankreich die Exekutive nicht. Man kann mit dem, was die macht, zum Teil nicht einverstanden sein. Es ist eine schlagkräftige Exekutive. Die französische Polizei ist immer sehr schlagkräftig gewesen. Und ihre Anbindung an das parlamentarische System war ein Prozeß, der eine lange Zeit gebraucht hat und erst nach 1871 mit der Befestigung des parlamentarischen Systems abgeschlossen war. Dagegen hat sich, das ist interessant genug, deutsch beeinflußter Widerstand erhoben, der greifbare Konturen bekommen hat, natürlich unter Pétain. Es gibt einen Verfassungsentwurf der Regierung Pétain. Ich empfehle immer wieder, den doch einmal neben das Grundgesetz zu legen und festzustellen, welche überraschenden Übereinstimmungen es zwischen diesem Verfassungsentwurf des Marschalls Pétain, d.h. der Leute, die das für ihn gemacht haben, und dem Grundgesetz und seiner Verfassungsrechtspartei gibt.

KONKRET: Sie meinen, die umfassenden britischen Sozialisierungen unter Attlee ab 1945 wären in der Bundesrepublik und insbesondere unter der herrschenden Lehre der Grundgesetzinterpretation nicht möglich gewesen?

RIDDER: Sie würden heute in der Rechtsprechung nicht durchkommen. In den frühen 50er Jahren wäre das noch anders gewesen. Art. 15 GG erlaubt ausdrücklich die Sozialisierung von „Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln“. Aber obwohl sich der klare Wortlaut nicht verbiegen läßt, ist dieser Sozialisierungsartikel heute nur noch eine hohe Säule, die von der Pracht längst vergangener Möglichkeiten zeugt und nicht einmal zusammenstürzen, d.h. aus dem Grundgesetz amputiert werden muß, um unanwendbar zu werden. Dafür sorgt schon der Kosmos von „Werten“ und hehren „Prinzipien“, aus dem die verfassungs- gerichtliche Judikatur eine Oberverfassung und mit deren Hilfe das primäre Grundgesetz zu einem im alltäglichen Betrieb verwendbaren Regierungsinstrument macht (so hat sich Friedrich Wilhelm IV. die Funktion der unter ihm entstandenen preußischen Verfassung von 1850 vorgestellt).

Mein Mißtrauen gegen die dadurch erzeugte scheinbare Regelungsdichte des primären Grundgesetzes ist im Laufe der Jahre immer größer geworden. Ich ziehe den britischen Zustand vor, in dem man nur rechtlich nicht normative Verfassungsgrundsätze hat. Ein solcher „Grundsatz“ ist z. B., daß der Monarch (als King in Parliament) seit einigen hundert Jahren nicht mehr nein sagt zu den Beschlüssen, die im Unterhaus und Oberhaus durchgegangen sind. Das ist kein Rechtssatz, das ist eine „Convention“, ein „Constitutional understanding” – und das wird de facto eisern eingehalten auf der Grundlage einer konsequenten Politischen Kultur der Demokratie. Ich gehe inzwischen so weit, daß ich Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes, in dem steht, daß die nachfolgenden Grundrechte „als unmittelbar geltendes Recht“ alle Zweige der Staatsgewalt binden, für einen außerordentlich gefährlich gewordenen Satz halte. Die Grundgesetzväter hielten ihn im Rückblick auf das elende Schicksal der Grundrechte in Weimar für unentbehrlich; damals waren die grundrechtlich fixierten demokratischen Freiheitsrechte, da nur „Programmsätze“, von der Jurisprudenz ja förmlich pulverisiert worden, in diametralem Gegensatz zur Aufblähung der besitzstandsichernden Eigentumsfreiheit zum „Institut“.

Aber wie das Demokratiegebot des Grundgesetzes nur ein Indiz des Defizits an gesellschaftlichem demokratischem Bewußtsein war, drückte sich in Artikel 1 Absatz 3 der untaugliche Versuch aus, durch Rechtsgebote demokratische Gesinnung bei der Entfaltung demokratischer Freiheitsrechte zu gewährleisten.

Das Resultat ist das Umkippen dieser Grundrechte, an denen die Staatsgewalt jetzt nicht mehr vorbeikann, in der Praxis, die von der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts geleitet und dadurch selbst zu neuem Verfassungsrecht gehärtet wird, gegen das es keine Rechtsmittel mehr gibt. Ich habe zu dieser zyklischen Transformation der Grundrechte 1977 in der Zeitschrift „Leviathan“ eine Studie mit dem Titel „Vom Wendekreis der Grundrechte“ veröffentlicht.

KONKRET: Bitte noch einmal zurück zum Sozialisierungsartikel des Grundgesetzes. Gilt denn nun Artikel 15 nach Ihrer Meinung noch, oder gilt er nicht mehr?

RIDDER: Natürlich gilt er noch, da er nicht aufgehoben worden ist. Aber er ist nicht nur in dem Sinne obsolet geworden, daß er nicht mehr bemüht wird, weil das Thema Sozialisierung längst und für absehbare Zeit aus den politischen Agenden und dem Diskurs verschwunden ist (von der systemimmanenten Sozialisierung der Verluste durch Konkurse, Besteuerung undsoweiter wird immer geschwiegen). Vielmehr würde er, sollte die Forderung wider Erwarten doch noch einmal auf die Tagesordnung gelangen, bei der verfassungsgerichtlichen Überprüfung durch ein als Rechtsfindung aufgezogenes Spektakel – in Wahrheit eine rein politische Entscheidung – mühelos den vom Bundesverfassungsgericht so genannten Wertentscheidungen für die Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit etcetera etcetera geopfert werden, da die grundgesetzliche Erlaubnis zum Sozialisieren natürlich nicht als Ausdruck einer Wertentscheidung qualifiziert werden würde und eher als Bahnsteigkarte zur Revolution eingeschätzt wird. Das justizförmige Spektakel, ein Exempel rhetorischer Jurisprudenz, würde in einer Abwägung zwischen den Wertentscheidungen und einer, wie nun wohl zu sagen ist, Nicht-Wertentscheidung des Grundgesetzes bestehen; das Ergebnis steht vor der Abwägung bereits fest. Diese für das voll entwickelte BRD-Modell Deutschland spezifische Variante des Obsoletwerdens einer Verfassungsnorm konnte ich natürlich nicht im Blick haben, als ich 1951 auf einer Staatsrechtlehrertagung das baldige Obsoletwerden von Artikel 15 GG prognostiziert hatte und darüber mit Wolfgang Abendroth und seinem Marburger Kreis eine heftige, der persönlichen Freundschaft und den kollegialen Beziehungen höchst bekömmliche Kontroverse auszufechten hatte. Das gerade entstandene Bundesverfassungsgericht hatte sich noch nicht über die Grundrechte hergemacht und noch nicht entfernt daran gedacht, sich zu allem Überfluß auch noch als Partner einer wissenschaftlichen Diskussion zu gerieren, der aber sicher sein kann, daß er mit seiner Auffassung auch unanfechtbar und allseits bindend entscheidet.

KONKRET: Sie lassen wohl kein gutes Haar an der Verfassungsgerichtsbarkeit?

RIDDER: Doch. Auf jeden Fall ein ganz besonders wichtiges. Ich bin durchaus für eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die mit großer Strenge darüber wacht, daß die justiziellen Grundrechte (Recht auf den gesetzlichen Richter, Anspruch auf rechtliches Gehör undsoweiter) und die eindeutigen prozeduralen und organisatorischen Verfassungsbestimmungen und die unter ihnen gesetzten sonstigen rechtlichen Regeln nicht verletzt werden, deren Befolgung dem government, dem Regierungshandeln im weiteren Sinne, demokratische Legitimation verschafft. In diesen Bereichen gibt es auch manche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, die nur zu begrüßen sind. Aber jenseits dieser Bereiche materialisiert sich das aus dem Spätkonstitutionalismus des Kaiserreichs stammende, vordemokratisch am „Staat“ orientierte ideologische Virus eben ganz massiv. So hat die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts letztlich auch den Trend zur Verwandlung der gewählten Abgeordneten in Amtsträger – und damit der parlamentarischen Volksvertretung in eine Repräsentation des „Staats“ durch Quasi-Beamte – eher gefördert als behindert, nachdem es schon ganz früh das „Volk“ zu einem Verfassungsorgan erhoben hatte.

Die politischen Parteien, die in den Ländern des demokratischen Westens keinen Verfassungsstatus haben, werden aufgrund der Judikatur in wachsendem Umfang unmittelbar aus dem Staatshaushalt mitfinanziert, und zwar unter dem Titel der Wahlkampfkostenerstattung. Sie erfüllen nach dem zugrundeliegenden Konzept, indem sie dem Volk, das mit dem Wählen eine Staats­aufgabe erfüllt, bei der Wahlentscheidung helfen, ihrerseits eine Staatsaufgabe. Die Alimentierung der Parteien aus der Staatskasse ist stattlich, unehrlich und demokratiewidrig. Die Stattlichkeit erweist sich einem vergleichenden Blick auf die bescheidenen Behausungen und Apparate nicht nur der Labour Party, sondern auch der Konservativen in England (obwohl beide natürlich auch Spenden ihrer Klientel erhalten). Die Unehrlichkeit erhellt aus der einigermaßen skandalösen Geschichte der sprachlichen Verkleidung: Das Bundesverfassungsgericht bewilligt durch einen Etikettentausch als Wahlkampfkostenerstattung dasselbe, was es zuvor mit Recht als Finanzierung der Parteiarbeit als solcher verboten hatte, weil damit die Unterscheidung zwischen den Sphären der nicht organisierten Gesellschaft und der Regierung im Sinn von government den Bach heruntergeht, ohne die es im Gesamtpolitikum nicht demokratisch zugehen kann. Ich sage: demokratisch, natürlich nicht: demokratisch-zentralistisch. Daß der sogenannte demokratische Zentralismus der sogenannten Volksdemokratien nicht gerade demokratisch war, trifft zu – und gehört doch sonst und in abstracto auch zum Credo der herrschenden Doktrin, die diese beiden untrennbaren Sphären im übrigen sogar voneinander trennen will. Das Bundesverfassungsgericht konnte an der Verwerfung der Parteienfinanzierung aus dem Staatshaushalt nicht festhalten, weil es darauf angewiesen ist, sozusagen aus der Mitte der etablierten und bislang noch nicht durch Wahlen ernstlich lädierten Parteienkiste zu judizieren: Die nicht vom Volk gewählten „Volksparteien“, d.h. ihre Führungsspitzen, handeln – Möglichkeit A – aus, was die vom Volk gewählte Volksvertretung dann nur noch zu ratifizieren hat. Kommt es nicht zu einer solchen Einigung – Möglichkeit – und infolgedessen zu knappen Entscheidungen im Bundestag, funktioniert das Bundesfassungsgericht, dessen Zusammensetzung das deutsche Idealbild einer Permanenten großen Koalition Aller Staatstragenden Parteien abspiegelt, als unentbehrlich gewordener Moderator, der sich an die damit gegebenen Parameter halten muß, will er nicht eine Einbuße an Kompetenzen riskieren oder gar seine Fortexistenz aufs Spiel setzen.

KONKRET: Könnte es nicht sein, daß sich der revolutionär-demokratische Vorsprung des Westens vor Deutschland inzwischen erledigt hat, weil die Bundesrepublik in vielen Punkten als Vorbild genommen wird?

RIDDER: Mit dieser Frage sprechen Sie eine zweifellos längst in Gang gekommene Entwicklung an. Die Bundesrepublik ist immer schon freigebig gewesen, was den Export des Modells Deutschland angeht, nicht nur nach Osten, sondern in alle Richtungen der Windrose. Nach Norden wird das noch kommen, wenn die EFTA in die Europäische Union integriert werden sollte. Mich beunruhigt also vor allem der ideologische Transfer auf den Schienen der Europäischen Gemeinschaften, die in ihrer Struktur ja schon von Anfang an das demokratische Defizit institutionell zementiert haben. Da gibt es auf der einen Seite eine europäische Gerichtsbarkeit, aber auf der anderen Seite keine demokratische Willensbildung zu Gemeinschaftsorganen bin, die über Rechtssetzungskompetenzen verfügen, während zum Beispiel das sogenannte Europäische Parlament in Straßburg bloß zuschauen darf. Aber verlassen wir das Thema lieber, um nicht auf dem weiten Feld der Versuche, Europa einzudeutschen, stecken zu bleiben.

KONKRET: Schaut das Ausland, das beim Europa-Spektakel doch mitspielt, den Deutschen auch bloß zu?

RIDDER: Ich glaube, daß die Deutschen, auch wenn nicht viel darüber gesprochen wird, auch weiterhin unter einer Kontrolle stehen. Wir werden sehen, wie viel von dem tiefgründigen und stillschweigenden Einvernehmen der vier Siegermächte, die eine geteilte Kontrolle über das geteilte Deutschland ausgeübt haben, übrigbleiben wird. Die Sowjetunion hatte bis 1990, wenn es drauf ankam, vor dem Kapitalismus weniger Angst als vor den Deutschen. Und die Westmächte hatten, wenn es darauf ankam, vor dem Sozialismus weniger Angst als vor den Deutschen. Wenn es besonders gefährlich wurde, hat das in der Vergangenheit ganz gut funktioniert, zum Beispiel beim Sturz von Strauß 1962, an dem die USA einen großen Anteil hatten. Trotz des Bruchs zwischen den vier Mächten von 1947 war noch etwas von der Anti-Hitler-Koalition übrig geblieben. Und das Bewußtsein davon, daß man den Deutschen auf die Finger gucken muß, das ist überall noch vorhanden.

KONKRET: Ist das nicht doch vielleicht Wunschdenken? Ist es bei einem Land von der Größe und der industriellen Stärke der Bundesrepublik auf Dauer nicht doch eine Illusion gewesen, daß die Situation von ‘45, der Abbruch des deutschen Unglücks, von außen dauerhaft garantiert werden könnte? Da hätte eben doch noch jenes andere hinzukommen müssen, von dem Sie einmal Ende der sechziger Jahre gesprochen haben: Sie sprachen damals von der Möglichkeit und Notwendigkeit einer „Umgründung“ der Bundesrepublik, sagen wir 1968/69/70. Was haben Sie sich damals eigentlich dabei gedacht?

RIDDER: Da habe ich gedacht an die Einstellung auf die Realitäten, die mit dem Kriegsende gegeben waren, d.h. darauf, daß es nach dem Verpassen der historischen Chance von 1945 für einen Neuanfang nunmehr, also Ende der 60er Jahre, wiederum eine solche Chance gab, weil die Regierenden des CDU-Staats sich der Einsicht öffneten, daß die BRD hinreichend konsolidiert sei, um den aus dem Streit um die Gründung der BRD entstandenen ideologischen Bürgerkrieg beenden und die Streitbarkeit nach innen durch den Übergang zu westeuropäischer Normalität ablösen zu können. Doch auch diese Chance wurde verpaßt. Ihre Wahrnehmung wäre nach allem, was zuvor war, eine Revolution gewesen. An die Revolution habe ich dann 1989 wieder gedacht.

KONKRET: Wie? Sie erhoffen sich zwischendurch immer wieder doch das Wunder einer deutschen Revolution?

RIDDER: Ja. Die Geschichte steht nämlich nicht still. Was sich 1989 in der DDR hocharbeiten konnte – ich meine nicht die jugendlichen Flippis, die von Trabant auf VW umsteigen wollten -‚ waren Anfänge einer Revolution mit der Vision eines demokratischen und menschenrechtskonformen Sozialismus. Diesem wahrlich furchterregenden Gespenst wurde unter Benutzung des aktuell vorhanden Macht- und Wirtschaftsgefälles zwischen BRD und DDR freilich das ohnehin kleine Lebenslicht alsbald ausgeblasen; es hätte, die Grenze zur BRD überschreitend, unabsehbaren Schaden für das politisch-ökonomische System derselben anrichten können. So wurde dem DDR-spezifischen Aufbegehren seine Originalität genommen und ausgerechnet diese „friedliche Revolution“ gestohlen und interventionistisch umfunktioniert für einen gestuften reaktionären Zweck, erstens für die Einverleibung der DDR, zweitens für die Verstärkung der Rechtsdrift in dem dadurch entstandenen „vereinten Deutschland“. So ganz außerhalb des Bewußtseins vieler Leute ist das auch nicht. Die Leute, die heute alle fragen: Ist das denn nun wirklich noch die alte Bundesrepublik? – die meinen in unbestimmter Weise schon etwas Richtiges, denken nur meist nicht genügend darüber nach. Die BRD ist inzwischen nämlich doch ein anderer Staat.

KONKRET: Jetzt, nach 1990?

RIDDER: Nach 1990. Das „vereinte Deutschland“ ist ein anderer Staat. Zu dieser Erkenntnis kann man aus dem Begreifen der juristischen Vorgänge kommen. Das muß man allerdings als Jurist dann ganz scharf machen und nicht als Pseudo-Jurist, mit jener juristischen Weltanschauung. In Wirklichkeit ist sogar ein umgründungsfreundlicher Rechtsrahmen entstanden.

Die DDR ist, rechtlich gesehen, der Bundesrepublik Deutschland nicht beigetreten. Was die Volkskammer der DDR, von Illusionen narkotisiert, dazu beschlossen hat, ist juristisch ein Nullum. Sie hat in diesem Zustand beschlossen, daß die DDR dem Geltungsbereich des Grundgesetzes beitritt. Stellen Sie sich das mal vor?! Ein Staat tritt dem Geltungsbereich eines Gesetzes bei! Das gibt es gar nicht. Das ist unmöglich. Das geschah unter Bezugnahme auf Artikel 23 des Grundgesetzes, der, was mittlerweile unbestritten ist, in der DDR nie gegolten hat. Wie kann denn ein Organ der DDR aufgrund eines solchen Artikels diesen Beitritt vollziehen?! Das hat eben nicht stattgefunden.

KONKRET: Was hat denn dann stattgefunden?

RIDDER: Es ist ein völkerrechtlicher Vertrag abgeschlossen worden, genauer: es waren zwei Verträge, von denen der erste, der Vertrag über die attraktive Währungs- und Wirtschaftsunion, bereits den weiteren Weg determinierte. Der dann folgende Einigungsvertrag war aber ein völkerrechtlicher Vertrag von zwei Staaten, die sich miteinander vereinigen. Und aus einem solchen Vertrag kann nur ein neuer Staat hervorgehen – unabhängig von den Artikeln 23 oder (wovon ohnehin offiziell dann niemand mehr redete) 146 des Grundgesetzes.

KONKRET: Wie kann etwas stattfinden, was im Bewußtsein der beiden Beteiligten nicht stattgefunden hat? – Beide, sowohl der BRD-Bundestag als auch die DDR-Volkskammer, waren der Ansicht, wir handeln aufgrund von Artikel 23 Grundgesetz. Auch die Volkskammer hat das festgelegt.

RIDDER: Aber das Bewußtsein – „Denken“ wäre hier schon zu viel gesagt – kann weder Tatsachen noch – rechtliche Realitäten verändern. Es ist ein neuer Staat entstanden, auch wenn er hartnäckig den alten Namen Bundesrepublik weiter führt. Die Vier Mächte haben in dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag – sie haben dem BRD-Trachten nach einem Eins-Plus-Vier-Vertrag nicht entsprochen – dieses Land niemals Bundesrepublik Deutschland genannt, sondern nur: das vereinte Deutschland. Sie haben den Deutschen noch mal die Chance gegeben, sich zu Realitäten zu bekennen, sie jedenfalls nicht wegzufingieren, jedoch insofern wohl schon resignierend, jedoch immerhin in der empirisch begründeten Gewißheit, daß eine ihre frontstaatliche Mentalität nicht abschüttelnde BRD den größten Teil ihrer Kraft für die Verdauung ihrer Beute verbrauchen wird, der ihr dann bei der Verfolgung revisionistischer außen­politischer Ambitionen fehlt, beim Streben nach Saturierung der Ansprüche, die ihr als Fortsetzung des „Deutschen Reiches“ zukommen.

KONKRET: Wenn Sie die deutsche Geschichte seit 1871 nehmen, was ist im Vergleich zur bisherigen Kontinuität deutscher Geschichte neu an diesem Staat?

RIDDER: Neu an diesem Staat ist nicht, daß er selbst ein neuer Staat ist. Auch die 1949 gegründeten beiden deutschen Nachkriegsstaaten, die BRD und die im Gegenzug gegründete DDR, waren neue Staaten. Aber anders als die sich für „identisch“ mit dem angeblich fortexistierenden Deutschen Reich erklärende und dadurch ihre Neuheit bestreitende „alte BRD“ kann das „vereinte Deutschland“, das sich selbst als „vergrößerte – (und damit auch als fortgesetzte) BRD“ bezeichnet, diese Fortsetzung von amtlich verbindlichem Unsinn jedenfalls nicht mehr mit der juristischen Falschmünzerei zu begründen versuchen, mit der die „alte BRD“ die von den vier Besatzungsmächten vorbehaltenen und somit den Deutschen vorenthaltenen „Rechte und Verantwortlichkeiten in Bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes“ zu einer Bestätigung des „fortexistierenden deutschen Gesamtstaats“ umfunktioniert hatte. Ungeachtet der wegen der Gründung der BRD aufgebrochenen Kontroverse der drei Westmächte mit der Sowjetunion haben die drei Westmächte keinen Zweifel daran genährt, daß die nach der bedingungslosen Kapitulation vom Mai 1945 von ihnen ausgeübte oberste Regierungsgewalt „in Deutschland“ nicht von den deutschen Instanzen abgeleitet war und nicht eine treuhänderische Wahrnehmung deutscher Staatsgewalt darstellte. Sie haben das den Deutschen vor allerdings verschlossene Augen geführt, indem sie den nicht mehr funktionsfähigen Alliierten Kontrollrat nur stillgelegt, nicht aber durch Kündigung aufgelöst, das System der wechselseitigen Militärmissionen seiner symbolischen Bedeutung wegen fortgesetzt, in zugespitzten Situationen – bis in den Beginn der Verhandlungen zum Zwei-Plus-Vier-Vertrag – symbolträchtig mit der Sowjetunion im Kontrollratsgebäude in Berlin getagt, dem Bundesverfassungsgericht auf seine nach „Berliner Sachen“ ausgestreckten Finger geklopft und jede Inanspruchnahme von BRD-Kompetenzen im Jurisdiktionsbereich der DDR zurückgewiesen haben – alles natürlich mit der unter Bündnispartnern naheliegenden diplomatischen Diskretion.

Neu ist an diesem Staat ferner, wenn wir uns jetzt seine verfassungsrechtliche Innenausstattung einmal genauer -ansehen, daß er – bitte nicht schreien! – überhaupt keine Verfassung hat. Die DDR ist untergegangen, aber auch die BRD, wenn auch ihre Politprominenz nichts davon gemerkt hat. Aber das steht sogar in der Präambel des Grundgesetzes, dessen entscheidender rechtlicher Geltungsgrund die Genehmigung der westlichen Besatzungsmächte war. „Für eine Übergangszeit“, die Zeit nämlich bis zum Ende der staatlichen Separatexistenz der durch das Grundgesetz konstituierten BRD, sollte das Grundgesetz gelten. Daß dieses Ende mit der Fusion von BRD und DDR gekommen ist, geht auch aus dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag hervor, der seinerseits der rechtliche Geltungsgrund für die Entstehung eines aus den Territorien von Berlin, BRD und DDR bestehenden neuen Staates ist; in der Frage der „Vereinigung Deutschlands“ zu einem Staat waren BRD und DDR ja noch nicht souverän, und Berlin war ein besetztes Gebiet ohne irgendwelche eigene auswärtige Gewalt geblieben. Der die „abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ darstellende Zwei-Plus-Vier-Vertrag visiert als „Verfassung des vereinten Deutschland“ auch keineswegs das Grundgesetz der BRD an; er stellt in Artikel 1 Absatz 4 vielmehr klar, welche besonders revisionsträchtigen Bestimmungen des Grundgesetzes, wie gerade der für den Taschenspielertrick des „Beitritts“ der BRD benutzte Artikel 23 Satz 2, auf keinen Fall in der Verfassung des neuen Staats wieder erscheinen dürfen. Als das am 12. September 1990 in Moskau vereinbart wurde, hatten freilich die hastigen deutschen Macher mit ihrem Einigungsvertrag vom 31. August 1990 auch in der Verfassungsfrage schon zugeschlagen, nämlich die Fortgeltung des Grundgesetzes über die „Übergangszeit“ hinaus und seine gleichzeitige Erstreckung auf „das gesamte deutsche Volk“ behauptet. Die Begründung für den „automatischen“ Übergang ist von atemberaubender Verwegenheit.

Vereinbart wurde nämlich die Streichung der „Übergangszeit“ aus der Präambel und die Aufnahme der abenteuerlichen These in die Präambel, die Deutschen hätten in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet und „damit“ (!!) gelte „dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk“.

Vor soviel Gehirnakrobatik bleibt einem doch die Spucke weg! Ein tatsächliches Geschehen (ob richtig festgestellt und bewertet, kann ich hier beiseite lassen) wird aufgrund seiner Feststellung zu einer automatischen Rechtsquelle, der das Grundgesetz als Verfassung des vereinten Deutschlands entfließt, neu für den Osten, erneuert für den Westen. Die große Koalition des rechten und linken innenpolitischen Chauvinismus, für die die Ministerialbürokratie das vertextet hat, ist dabei noch geschmacklos genug, diesem Staatsstreich, dem Bundestag und Volkskammer unter Überschreitung ihrer Kompetenzen zugestimmt haben, durch eine vollmundige Beschwörung der gestohlenen „friedlichen Revolution“ in der DDR den Anstrich des Revolutionären zu geben. In Wahrheit handelt es sich eben um den rechtlich untauglichen Versuch, einen Verfassungsoctroi von oben unkenntlich zu machen und als Beipack des Einigungsvertrags zur Rechtsgeltung durchzuschmuggeln. Davon hat natürlich das links-grünliche Völkchen, das ich mir 1992 einmal in „Konkret“ wegen der von ihm unter Voraussetzung der Fortgeltung des Grundgesetzes in Gang gesetzten „Verfassungsdebatte“ vorgeknöpft habe, nichts bemerkt. Und wegen ihres Defizits an geschichtlichem Bewußtsein haben wahrscheinlich sogar diejenigen, die diese Operation durch die listenreiche Vorspiegelung eines „Beitritts“ der DDR nach dem gar nicht anwendbaren Artikel 23 des Grundgesetzes eingefädelt und durchgeführt haben, selbst nichts davon bemerkt, daß sie mit dieser Art von falsch etikettiertem Verfassungsoctroi noch hinter den preußischen Verfassungsoctroi von 1848/50 unter Friedrich Wilhelm IV. zurückgefallen sind. Damals war wenigstens in aller Öffentlichkeit thematisiert, daß es um Verfassungsgebung ging, und ist immerhin, wenn auch unter dem „Schutz der Bajonette“, öffentlich darüber gestritten und verhandelt worden. Dies zu erkennen und zu begreifen, zu erkennen, daß das einer fortexistierenden BRD zugeordnete Grundgesetz für das schon vorhandene Deutschland nur eine „Als-ob-Verfassung“ ist, räumt einer demokratischen Umgründung Hindernisse aus dem Weg.

KONKRET: Ist das nicht nur eine Konstruktion von Ihnen?

RIDDER: Nein. Es ist das Auseinandernehmen einer Fehlkonstruktion des populistischen deutschen Juristendemokratismus, dessen staatsrechtliche Kreationen ohnehin rissig werden. Ich erwähne nur den amüsanten Vorgang, wie die politischen Eliten der BRD – durchaus zu meiner Genugtuung – nicht umhin können, Institute gerade jener Realverfassung außer Kraft zu setzen, die sie sich jahrzehntelang von ihrer Judikatur haben fabrizieren lassen. Diese deutschlandpolitische Realverfassung finden wir in Reinkultur im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR von 1973 (ich nenne es „Kyffhäuser-Urteil“; als erster hat sich, glaube ich, der Vizepräsident des Bundesverwaltungsgerichts Helmut Külz mit dieser Bezeichnung bei der Justiz mißliebig gemacht). Danach ist fast alles verboten, was 1990 dann geschah: Der Vertrag über die Wirtschafts- und Währungsunion und auch der Einigungsvertrag durften nach dem Urteil von 1973 gar nicht abgeschlossen werden. Denn da steht drin, daß zwar ein „anderer Teil Deutschlands“ beitreten darf, aber er darf eben nur beitreten, durch eine einseitige Erklärung, und nicht vorher völkerrechtliche Verhandlungen führen und völkerrechtliche Verträge schließen, wenn ein Beitritt anvisiert ist. Und die Bundesrepublik Deutschland darf solche Verhandlungen überhaupt nicht aufnehmen.

KONKRET: Wäre es nicht besser und würde einen Neuanfang erleichtern, wenn die Kritiker der bisherigen -deutschen Entwicklung sagen würden: Wir haben einfach eine Niederlage erlitten. Unsere Gegner, auch die Anhänger der Über- und Nebenverfassung des Bundesverfassungsgerichts, haben eben gegen uns rechtbehalten? Dann kämpft es sich vielleicht leichter, wenn man eine Niederlage, die eine ist, auch zugibt.

RIDDER: Wenn es denn eine Niederlage gäbe, würde ich zunächst sagen: Ich gebe aber als Jurist und als Wissenschaftler doch nicht die Erkenntnis preis, daß etwas, was bloß faktisch ist, nicht ohne weiteres normativ sein kann. Doch die Kategorien Sieg und Niederlage scheinen mir hier nicht zu passen. Kritiker einer bestimmten Entwicklung wollen eine andere Entwicklung. Das ist ein Dauerjob. Solange sie keinen Erfolg haben, können sie keinen Sieg verbuchen. Aber von einer Niederlage könnte erst dann die Rede sein, wenn sie außer Gefecht gesetzt werden.

KONKRET: Die offizielle Auffassung behauptet, der 1871 gegründete deutsche Staat bestehe fort, Sie halten dagegen, er sei 1945 untergegangen, und seit 1990 bestehe ein ganz neuer gesamtdeutscher Staat. Welche praktische Bedeutung hat das?

RIDDER: Ich nenne Ihnen ein Beispiel:

Es gibt doch seit 1990/91 zwei schöne Verträge mit Polen. Nach dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag mußte erstens ein neuer Grenzvertrag mit Polen geschlossen werden (woraus im übrigen auch hervorgeht, daß die vier Mächte sich das „vereinte Deutschland“ als einen neuen Staat vorgestellt haben). Da steht dasselbe drin, was früher, also im Warschauer Vertrag von 1970 zwischen der „alten“ BRD und der Volksrepublik Polen, auch schon gestanden hatte. Dann gibt es zweitens einen viele Artikel umfassenden Vertrag über gute Nachbarschaft und so weiter. Fast alles Absichtserklärungen, gegen die im übrigen gar nichts einzuwenden ist. Aber: Da gibt es zum Abschluß dieses zweiten Vertrags einen Briefwechsel, genauer: einen Austausch inhaltsgleicher Briefe. Und diese Briefe enthalten im allerletzten Satz, also kurz bevor die Minister sich ihrer gegenseitigen Hochachtung versichern, die Feststellung: Dieser Vertrag befasse sich nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit und nicht mit Vermögensfragen.

Das heißt also: Die deutsche Seite hat in ihrer gegenwärtigen Stärke unter Ausnutzung des Machtgefälles eine Regelung verhindert, wonach die – man weiß nicht, wie viele es sind: 100.000 oder eine Million oder noch mehr Menschen – deutschen Volkszugehörigen, die die polnische Staatsangehörigkeit haben und die zwischen Oder-Neiße und den alten Reichsgrenzen von 1937 wohnhaft sind, daß die also nicht mehr zugleich auch als deutsche Staatsangehörige (sei es als Eingebürgerte nach den Nazi-Volkslisten im besetzten Polen, sei es als sogenannte Statusdeutsche nach Artikel 116 GG) in Anspruch genommen würden. Und Vermögensfragen. Das heißt: die deutsche Seite behält sich vor – vielleicht kommen für sie mal noch bessere Tage -‚ für die Vermögensschäden, die sie erlitten hat, den Polen eine Rechnung zu präsentieren; eine „Belebung dieser Frage“ hält das Auswärtige Amt bereits bei der Behandlung des polnischen Antrags auf Mitgliedschaft in der EG für möglich. Der Rechtstitel, von dem sie in beiden Fragen ausgeht, ist der im Kyffhäuser-Urteil niederlegte Anspruch, das Deutschland von 1991 sei dasselbe wie das von 1871.

KONKRET: Das heißt aber doch, daß die deutsche Seite ihren Kyffhäuser-Anspruch wieder einmal durchgesetzt hat.

RIDDER: Und es bedeutet, um das ganz klar zu machen, daß die deutsche Seite sich vorbehält, bei günstiger Gelegenheit die Rückgabe von Grund und Boden an Vertriebene oder ihre Rechtsnachfolger einzufordern.

KONKRET: Wie kann sowas denn jetzt noch korrigiert werden?

RIDDER: Das Bundesverfassungsgericht kann seine Entscheidung nicht zurücknehmen. Es kann auch keine Urteile des Bundesverfassungsgerichtes geben, in denen ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aufgehoben wird. Es könnte durch revolutionären Staatsakt eines anderen Organs geschehen. Eine große einstimmige Resolution des Bundestages stelle ich mir da vor, wenn ich mir erlaube, von den antirevolutionären politischen Realitäten abzuheben.

KONKRET: Und was stünde da drin?

RIDDER: Daß das Urteil von 1973 ungültig ist, und daß weder die Bundesrepublik von 1949 noch der 1990 entstandene neue deutsche Staat mit dem von 1871-1945 identisch ist. Aber bleiben wir auf dem Teppich der Realitäten, aus deren Widersprüchlichkeit immer auch, weil die Geschichte unbestechlich und mit der Wahrheit verbündet ist, Selbstheilungskräfte entstehen, die man freilich nur dann fördern kann, wenn man sie erkennt! Ich will das anhand des schlagenden Beispiels, über das wir jetzt schon eine ganze Zeit gesprochen haben, noch einmal zu verdeutlichen versuchen:

Als nach der Implosion des SED-Regimes in der DDR Bonns Entscheidung feststand, unter Ausnutzung des in der DDR entstandenen Machtvakuums die deutsche Einheit durch Einverleibung der DDR in die BRD hinzukriegen und diesen Vorgang als „Beitritt“ der DDR zur BRD nach Artikel 23 GG zu inszenieren, kam der Generalstab nicht daran vorbei, einen völkerrechtlichen Verhandlungstisch für BRD und DDR als gleichrangige Partner der abzuschließenden Verträge einzurichten. Hier interessiert nun nicht, daß und wie die DDR über diesen Tisch gezogen wurde, sondern der von mir schon beschriebene geradezu schreiende Widerspruch zwischen diesem einge­schlagenen Verfahren und dem Verbot gerade eines solchen Verfahrens für den Fall eines „Beitritts anderer Teile Deutschlands“ zur BRD durch das Kyffhäuser-Urteil, das mit seiner authentischen Grundgesetzinterpretation zum unaufhebbaren Bestandteil der Realverfassung der BRD geworden war. Das heißt, die Realverfassung ist an dieser Stelle bereits kaputt, und zwar durch ihre eigenen Konstrukteure zerstört. – Vielleicht noch eine gesprochene Fußnote zu dem mehrfach von mir gebrauchten Begriff „Realverfassung“: Realverfassung der BRD ist das praktizierte Grundgesetz, also das, was die auch von der literarischen Jurisprudenz gestützte und akzeptierte Rechtsprechung aus dem primären Grundgesetz gemacht hat.

Nun bin ich aber noch gar nicht am Ende meines Vortrags über den historischen Selbstlauf der Wahrheit und -drohe damit schon wieder einmal den Rahmen eines Gesprächs zu sprengen. Aber das Wichtigste kommt erst:

Für die BRD-Akteure der „deutschen Vereinigung“ wäre es natürlich mehr als peinlich, wenn publikums- notorisch würde, daß sie selbst das Grundgesetz (in der Version des Kyffhäuser-Urteils) gebrochen haben. Mit der Mentalstruktur der anonymen Familie Rumpelstilzchen ausgestattet, wissen sie, was wir zum Glück auch wissen, nämlich daß ihnen nichts anderes übrigbleibt, als sich selbst „mitten entzwei“ zu reißen, wenn das herauskommt und benannt wird. Also wird dieser sich in neue Widersprüchlichkeiten verstrickende Bruch der in Sachen „Deutschland“ durch die Vergewaltigung historischer Tatsachen zurechtkonstruierten Realverfassung vertuscht. Die dahin gehörenden Partien des Kyffhäuser-Urteils werden im Keller verwahrt und nicht mehr zitiert, damit, ja damit, das ist gar nicht paradox, die objektiv in diesem Bruch liegende Abkehr von der frontstaatlichen Realverfassung nicht mehr als solche erkannt wird und – ich verallgemeinere jetzt – eben nicht erkannt wird, daß mit dieser Abkehr als einem wesentlichen Stück von Normalisierung im Sinne des nicht „streitbaren“ westeuropäischen Demokratieverständnisses auf einem bestimmten Sektor auch schon die von mir immer wieder beschworene „Umgründung“ angelaufen ist – zwangsläufig und ganz gegen die verbissen antirevolutionären Macher. Die Umgründung unter antirevolutionären Bedingungen ist ein schwieriger und höchst komplexer Prozeß. Aber hier könnten demokratische Erneuerer realitätsnah einsetzen und nachstoßen, anstatt sich einzubilden, der Weg zu einer demokratischen Erneuerung könne eine Fortsetzung des Wegs zur Herausbildung der Realverfassung bis 1989 sein. Mit etwas mehr Realitätsnähe würden ihnen die Augen dafür aufgehen, in welcher Falle die Macher sich wiederfinden, seit sie gezwungen sind, am laufenden Band, aber natürlich auch auf Klammheimlichkeit bedacht, im nachhinein Positionen fallen zu lassen, die zu den Heiligtümern der „alten“ BRD gehörten. Ich will dafür nur ein Beispiel von Dutzenden anführen:

Bis 1989 war ein durch bundesverfassungsgerichtliche Kanzelabkündigung gehärtetes Dogma, daß es nur eine, die DDR-Bürger einschließende deutsche Staatsangehörigkeit und daneben oder darunter keine besondere BRD-Angehörigkeit gebe. Was finden wir dazu in einer Novelle des Bundeswahlgesetzes vom August 1990 in Vorbereitung der ersten „gesamtdeutschen“ Bundestagswahlen? Das immer schon Selbstverständliche und jetzt plötzlich zwangsläufig Gewordene, nämlich, daß wahlberechtigt die „Bürger der Deutschen Demokratischen Republik“ und die „Bürger der Bundesrepublik Deutschland einschließlich Berlin (West)“ sind. Hätte vor der sogenannten Wende ein Beamter der Ministerialbürokratie die „Bürger der Bundesrepublik Deutschland“ in den Text einer Rechtsvorschrift hineingeschmuggelt, er hätte sich damit die disziplinarische „Entfernung aus dem Dienst“ eingehandelt. Aber seit 1990 wird ex post mit der Äderung des Bundeswahlgesetzes eine der drei berühmt-berüchtigten „Geraer Forderungen“ erfüllt, die sich jetzt als nicht „typisch Honecker“ und „typisch DDR“, sondern als eine Forderung des Völkerrechts und des außerhalb der BRD-Grenzen waltenden gesunden Menschenverstands erweist. Ich wiederhole: Hier, und nicht mit der Hinnahme der absurden Produkte des Streitbarkeitswahns in der Realverfassung, hätte die demokratische Verfassungsbewegung anzusetzen, die notwendig zur Umgründung der (jetzt „vergrößerten“) BRD in die Normalität der revolutionär begründeten Politischen und Rechtskultur des „Westens“ gehört.

KONKRET: Sie unterstreichen häufig eine Alternative: Umgründung oder Weiterbestehen der deutschen Gefahr. Was ist das für Sie, die deutsche Gefahr?

RIDDER: Als deutsche Gefahr von außen wahrgenommen werden die deutschen Staatsbildungen spätestens seit dem bellikosen Zusammenschmieden des Bismarck-Reichs. Die wichtigste Mission, die der Schmiedemeister sichern wollte, war die machtvolle und solide Absicherung Deutschlands und des übrigen legitimistischen europäischen Kontinents vor den Wellenschlägen der Französischen Revolution. Es gibt daher enge, wenn auch komplizierte und nicht unvermittelt automatisch funktionierende, Zusammenhänge zwischen dem Abenteurertum einer deutschen Außenpolitik, die seit der Reichsgründung zweimal einen Weltkrieg herbeigeführt hat, und dem vordemokratischen deutschen Dispositiv, von dessen bis heute vorhandener Virulenz und Lebendigkeit der Gegenwart verlängernde und alternative Zukünfte verhindernde Kontinuitäts-Tick zeugt. Um die deutsche Gefahr vor diesem Hintergrund definieren zu können, betreibe ich Schoß-Forschung.

KONKRET: Wie bitte?

RDDER: Schoß-Forschung. Sie kennen das doch: Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch, Brecht.

Was da kroch, ist weg. Weg ist längst die NS-Realisation. Aber der Schoß ist noch da.

Ich habe ja mit dem heutigen sogenannten Antifaschismus nichts am Hut. Das ist desorientierender Blödsinn und inzwischen eine Legitimationsideologie der offiziellen Bundesrepublik, also nicht nur eine Sache der Linken. Indem man feststellt, der Nazismus sei erledigt und man sei entschlossen, allen Anfängen zu wehren, sieht man großzügig darüber hinweg, daß der Schoß noch da ist, aus dem das kroch. Da ist vorher vieles rausgekrochen und kriecht hinterher noch vieles raus.

KONKRET: Und dieser Schoß, was ist das? Ist es der deutsche Staat oder das deutsche Volk?

RIDDER: Es ist der deutsche Staat, die undemokratische Idee des Staates, die auch immer wieder verhinderte, daß dieses Volk politisch zum Nachdenken kam.

Also diese typisch deutsche Vorstellung vom Staat und die daraus immer neu hervorgehende Praxis antirevolutionärer Staatsräson – die Nomenklaturen ändern sich – das ist es, was mich interessiert. Von da kommt doch auch vieles von dem, was wir uns dummerweise angewöhnt haben als Faschismus zu bezeichnen. Was ist denn das? Eine Summierung von Antisemitismus, Antikommunismus, Antisozialismus, Antiliberalismus und (nach 1918 demokratisch drapiertem) deutschnationalem Antidemokratismus. Nichts davon war neu.

Alles zusammen war von den Agitatoren der Nazi-Bewegung zu einem die Massen berauschenden Seelenbräu hochgekocht worden, als die Steigbügel­halter von 1933 sich entschlossen, eine gerade schon jenseits ihres Zenits angelangte historische Chance zu ergreifen, um auch die trotz der Löschung der Novemberrevolution von 1918 in die Reichsverfassung von Weimar aufgenommenen demokratischen Institute und Institutionen auszumerzen. Die heutigen Nachfahren der Steigbügelhalter von 1933 sind aber keine Flicks oder Röchlings, die eine systemfeindliche Massenbewegung finanzieren. Sie benötigen nur soviel Rechtsextremismus wie erforderlich ist, um für sich selbst die Optik der „Mitte“ zu erhalten und für die Vollbeschäftigung der lärmenden Neo- „Antifaschisten“ zu sorgen, die so daran gehindert werden, sich mit den Demokratiedefiziten des Systems und selbstkritisch mit der Frage nach der möglicherweise vordemokratischen Imprägnierung ihres eigenen Bewußtseins zu befassen.

KONKRET: Eine letzte Frage: Der Betrieb des als vergrößerte Bundesrepublik auftretenden vereinten Deutschlands läuft, das Grundgesetz mag noch gelten oder nicht, offenbar unerschüttert in den alten Bahnen weiter. Sind da nicht doch die Rezeptionsbedingungen für eine Umgrünung in eine für Alternativen und Reformen offene demokratische Normalität erheblich schlechter geworden?

RIDDER: Ich glaube nicht. Denn nicht nur am Grunde der Moldau wandern die Steine. Schon hingewiesen hatte ich darauf, daß sozusagen rückwirkend der frontstaatlich-streitbare Ausbau der Realverfassung einzustürzen beginnt. Er hat seine Feinde verloren. Doch statt sich darauf einzustellen und vernünftigerweise aus dem Einstürzen einen coram et cum publico durchdachten Rückbau zu machen, sind die reaktionären Kräfte der alt-neuen BRD, die den bisherigen Entwicklungstrend der BRD-Realverfassung auch durch ihren vermeintlichen Sieg über die DDR bestätigt und gestärkt sehen, auch noch töricht genug, diesen „Sieg“ bis zur Neige auszukosten, nicht nur durch juridifizierte ( „rechtsstaatliche“) Rache- und Vergeltungsakte an Repräsentanten des Regimes der untergegangenen DDR, sondern auch durch Vindikationen, die der zum Ersatzfeind werdenden großen Mehrzahl der vormaligen DDR-Bürger an den Lebensnerv gehen; Verständigung war nie ihre Losung für die Herstellung der staatlichen deutschen Einheit gewesen, deswegen mußte ja auch der „Runde Tisch“ schleunigst in die Rumpelkammer. Verbiestert von den schon ausgelösten und den noch zu erwartenden Reaktionen undankbarer, zu einem erheblichen Teil auch undankbar und mißtrauisch wählender Ossis und von der nicht gerade erheiternden Perspektive, schließlich doch das Hauptstadtgeschäft aus der vertrauten Stallwärme von Bonn in die Mitte eines Feindeslands nicht leicht zu analysierender neuer Qualität verlagern zu müssen, veranstalten die Systemträger der alt-neuen BRD nunmehr eine „Verfassungsreform“ von auffallend bescheidenem Volumen. Es wird vielleicht ein paar Anpassungen des Grundgesetzes an den aktuellen Regierungsbedarf, und es wird wohl ein paar kostenneutrale populistische Schnörkel ( „Staatszielbestimmungen“, die wieder vom Bundesverfassungsgericht ad hoc zu „konkretisieren“ sind) geben. Keine „Totalrevision“ des Grundgesetzes (wie seinerzeit eine Forderung des CDU-Abgeordneten Dr. Dichgans, der damit allerdings die ganze Ernte des CDU-Staats auf der Ebene des formellen Verfassungsrechts festzurren wollte und doch nur eine Verfassungsenquete heraufbeschwören konnte, die fürs Archiv zu arbeiten hatte). Das nicht eingestanden Wichtigste an dem jetzigen Spektakel ist, daß es überhaupt stattfindet. Es soll, ohne indes, weil es auch „von oben“ kommt, zu können, was es soll, dem durch den Einigungsvertrag dem „vereinten“ Deutschland aufoktroyierten Grundgesetz demokratische Legitimation nachschaffen und den nicht erkannten, aber weithin gespürten Octroi noch besser gegen seine Entdeckung sichern. Fazit: Der Betrieb läuft zwar weiter, aber von „unerschüttert“ kann meines Erachtens nicht die Rede sein. Die Erschütterung schafft Veränderungspotential, das aktualisiert werden kann, wenn Demokraten sich nicht mit dem Innehaben einer Gesinnung begnügen, sondern sich auch genauer dessen vergewissern, was mit und seit der sogenannten Wende in der DDR in ganz Deutschland wirklich geschehen ist. Dann verfängt auch der für manche Intellektuelle so attraktive postmodernistische Klimbim nicht mehr, der Systeme zu anonymen Subjekten macht und die politische Aktion aus dem Blickfeld nimmt.