Friedrich Engels`Dialektik der Natur

Ein Blick auf ein unvollendetes Werkstück des Dialektischen Materialismus

Diese Schrift, die hier als pdf-Datei runter geladen werden kann, ist die Grundlage meines Referats beim Freidenker-Verband NRW am 18.07.2015. Sie dient nur der persönlichen Information und ist nicht zur Veröffentlichung oder Zitation geeignet. Ich bitte um Beachtung.
Elmar Witzgall (Juli 2015)

 1. Zeitliche und politische Einordnung

Die Dialektik der Natur (DdN) ist eine eher schwer zu lesende Schrift, obwohl Friedrich Engels (FE) ein hervorragender Autor ist. Dies liegt daran, dass sie unvollendet bleiben musste, eigentlich nur eine Schriftensammlung darstellt, die erst noch als in sich geschlossenes Buch ausgearbeitet werden sollte. Diese Schriften-sammlung wurde von FE in Form von 4 Konvoluten plus einem  Gesamtplan kurz vor seinem Tode zusammengestellt. Die vier Konvolute sind unterschiedlich gut durchgearbeitet und enthalten auch Schriften, die in anderen Zusammenhängen während und nach der Lebenszeit von FE veröffentlicht wurden, unter anderem die Vorrede zum „Anti-Dühring“ (1878), die Schrift „Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ (1896) und die „Naturforschung in der Geisterwelt“ von 1898. Die DdN- Konvolute blieben zunächst unbeachtet in den Archiven der deutschen Sozialdemokratie vergraben.

Eduard Bernstein, der als „Antidialektiker“mit dem Werkstück nichts anfangen konnte, gab wenigstens eine Archiv-Kopie an den Russen David Rjazanow weiter, der zu Teilen davon u. a. von Albert Einstein ein Gutachten einholte[1]. Das, was von Rjazanow  1925, also vor 90 Jahren, in  der UdSSR als DdN veröffentlicht wurde[2],  stellt daher ein „unvollendetes Werkstück“ dar.

Gearbeitet an der DdN hat FE mit Unterbrechungen von 1873 bis 1886. Er brach die Arbeit ab, als Karl Marx (KM) gestorben war und er sich verpflichtet fühlte, die Kapitalbände 2 und 3 fertigzustellen und herauszugeben. Seine sonstigen politischen Aufgaben füllten die Restzeit komplett aus. In den davor liegenden 13 Jahren hat er als Grundlage seiner Ausarbeitungen gut 100 naturwissenschaftliche Arbeiten gründlich ausgewertet und teilweise im Detail kritisiert. Er bekam so einen Ein- und Überblick über die Naturwissenschaften (von der Mathematik, Physik bis zur Biologie) bis ins dritte Viertel des 19. Jahrhunderts. Dabei entging ihm eher wenig, obwohl er niemals eine Universitätsausbildung, geschweige denn in den Naturwissenschaften, erhalten hatte.

Warum hat FE sich diese Aufgabe gestellt, warum sich dieser Mühe unterzogen? Hat er dies vielleicht unabhängig von KM unternommen? War die Sache nicht die Mühe wert? Tatsächlich scheint sich der heutige Blick auf das Marx-Engels-Gesamtwerk auf die geschichtsphilosophische und politkökonomische Seite verengt zu haben. Sogar G. Fülberth reduziert in seiner ansonsten sehr lesenswerten, neuen Schrift[3] den marxistischen Erkenntniswert auf den des Historischen Materialismus` und widmet dem Dialektischen Materialismus nur eine kleine Fußnote, die auch noch einen Bezug auf Stalin enthält. Fülberth`s Schrift zeigt auf der anderen Seite anhand vieler Beispiele, dass moderne Marx-Engels-Interpretationen aber auch den Historischen Materialismus in immer kleinere Bestandteile und Erkenntnisfelder aufgliedern und dadurch seine Relevanz schmälern.

Tatsächlich war die Arbeit an der DdN zwischen KM und FE vereinbart, entsprach ausdrücklich einem gemeinsamen Programm und Ziel. FE äußert sich dazu u. a. so:

„Marx und ich waren wohl die einzigen, die aus der deutschen idealistischen Philosophie die bewußte Dialektik in die materialistische Auffassung der Natur und Geschichte hinübergerettet haben. Aber zu einer dialektischen und zugleich materialistischen Auffassung der Natur gehört die Bekanntschaft mit der Mathematik und Naturwissenschaft… Es handelte sich bei meiner Rekapitulation der Mathematik und der Naturwissenschaften selbstredend darum, mich auch im einzelnen zu überzeugen … daß in der Natur dieselben dialektischen Bewegungsgesetze im Gewirr der zahllosen Veränderungen sich durchsetzen, die auch in der Geschichte die scheinbare Zufälligkeit der Ereignisse beherrschen… Und endlich konnte es sich für mich nicht darum handeln, die dialektischen Gesetze in die Natur hineinzukonstruieren, sondern sie in ihr aufzufinden und aus ihr zu entwickeln.“[4]

KM hat sogar in einer Bemerkung zu den Vorarbeiten zum Kapital aus dem Jahr 1883 vermerkt, „..daß die Naturwissenschaft die Grundlage jedes Wissens bildet“[5]. Er verfasste umfangreiche mathematische Manuskripte im Zusammenhang seiner Arbeiten am Kapital.

Man kann davon ausgehen, dass neben dem „dialektischen Motiv“ weitere Interessen bei FE bestanden, um sich in die Naturwissenschaften zu vertiefen. Einerseits ging er mit KM davon aus, dass die Naturwissenschaften letztlich durch gesellschaftlich-ökonomische Bedürfnisse vorangetrieben werden und dass im Rückschluss für eine Bewertung der gesellschaftlichen Entwicklung eine solche des naturwissenschaftlichen Fortschritts notwendig sei. Andererseits war es ihm ein Anliegen, auf die fortschrittliche, ja revolutionäre Rolle der Naturwissenschaften bei der Überwindung politischer Unterdrückung und religiöser Reaktion beim Übergang vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft hinzuweisen, beginnend mit der Zeit der Renaissance:

„Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit… Auch die Naturwissenschaft bewegte sich damals mitten in der allgemeinen Revolution und war selbst durch und durch revolutionär, hatte sie sich doch das Recht der Existenz zu erkämpfen, … lieferte sie ihre Märtyrer auf die Scheiterhaufen und in die Gefängnisse der Inquisition.“[6]

2. Die Geburt der modernen Naturwissenschaft

Bis zum 18. Jahrhundert  fand der naturwissenschaftliche Fortschritt vor allem im Feld der mechanischen Physik (auch: Optik) statt, wenn man von den beträchtlichen, aber fast vergessenen Fortschritten griechischer Naturphilosophen absieht. Ein wichtiger Ausgangspunkt war der politisch-ideologische Konflikt über die Stellung der Erde im Kosmos, vom theologisch-geozentrischen (die Erde im Mittelpunkt) bis hin zum heliozentrischen (die Sonne im Mittelpunkt) Weltbild, der sich vom 16. bis ins 18. JH hinzog. Nikolaus Kopernikus und etwa 100 Jahre später Galileo Galilei begründeten theoretisch und durch astronomische Beobachtungen ein Modell mit der Sonne als Zentrum des Weltalls, um den sich selbst drehende Planeten (wie die Erde) kreisen. Galileo Galileo, der auch schon versuchte(vom Pisaer Turm), die Fallgesetze empirisch als Naturgesetz zu bestimmen, musste in der Auseinandersetzung um das Weltbild widerrufen. Giordano Bruno, der schon im 16. Jahrhundert die Vision eines unendlichen Weltalls entwickelte, landete auf dem Scheiterhaufen. Aber nicht nur der Vatikan, sondern auch die Reformatoren traten in diesen Auseinandersetzungen als reaktionäre Dogmatiker und Unterdrücker auf, worauf FE ausdrücklich hinwies.

Kepler entwickelte 1609 ein schlüssiges mathematisches Modell für die Umlaufbahnen der Planeten (Ellipsen mit der Sonne in einem Brennpunkt). Von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung der neuen „Himmelsmechanik“ war die neue Methode einer Kombination von Beobachtung (Experiment) und mathematisch formulierter Theorie. Bis dahin war das Konzept einer Himmel (nichtmaterielle Welt inklusive Mathematik) und Erde (unmittelbar Anschauliches; vier Elemente) trennenden Weltanschauung maßgeblich. Es ging bis auf die Naturphilosophie des griechischen Philosophen, des Scholastikers Aristoteles (4. JH v. u. Z.), zurück.

Isaac Newton war der Kopf an der Universität von Chambridge, welcher im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts ein Konzept der Bewegung von Körpern und der gravitativen Wechselwirkung zwischen ihnen zusammen mit der notwendigen Mathematik, einer frühen Form der Infinitesimalrechnung, entwickelte. Mit dem Newton`schen System (das seine drei Axiome und das Gravitationsgesetz enthält sowie die Begriffe Kraft, Masse, Trägheit, Bewegung, Beschleunigung exakt definiert) ließen sich die Konzepte der damaligen Kosmologen viel besser erklären und durchrechnen. Es wurde nun möglich, den Ort eines Körpers zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu bestimmen, vorausgesetzt, man kannte seinen Ort, seine Geschwindigkeit bzw. Beschleunigung  zu einem anderen Zeitpunkt. Das Newton`sche System, veröffentlicht 1668 als „naturphilosopisches, mathematisches Prinzip“, gilt bis heute – es erfuhr die Grenzen seines Gültigkeitsbereichs erst durch Einsteins Relativitätstheorien zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.

An die Stelle eines direkt durch göttliche Eingriffe eingerichteten Weltmechanismus` (aristotelisches Weltbild) hatte Newton einen einem einfachen Naturgesetz (!) gehorchenden Mechanismus gesetzt. Er ließ aber als gläubiger Mensch die Frage offen, ob dieser mathematische Mechanismus  durch einen „göttlichen Anstoß“ geschaffen wurde. Begleitet wurde das neue physikalische Konzept durch eine neue philosophische Denkweise ab dem 17. Jahrhundert, die u. a. von FE als mechanischer Materialismus charakterisiert wurde und mit Namen wie Spinoza und den sogenannten Aufklärern in Verbindung stand. In diesem Denken herrschte die Vorstellung vor, dass nicht nur die unbelebte, sondern auch die menschliche Natur mit relativ einfachen, mechanisch-statischen Modellen erklärt werden könne. Auf göttliche Eingriffe konnten diese Modelle verzichten, es kam nur darauf an, die betreffenden Gesetzmäßigkeiten zu erkennen und durch Aufklärung zu beherzigen[7]. Parallel erweiterte sich das Weltwissen massiv; es wurde durch die sog. Enzyklopädisten gesammelt, geordnet und verbreitet. FE fasste seine diesbezügliche Einschätzung zusammen:

„Was diese Periode aber besonders charakterisiert, ist die Herausarbeitung einer eigentümlichen Gesamtanschauung, deren Mittelpunkt die Ansicht von der absoluten Unveränderlichkeit der Natur bildet. Wie auch immer die Natur zustande gekommen sein mochte: einmal vorhanden, blieb sie wie sie war, solange sie bestand“.[8]

3. Die naturwissenschaftlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts

Statische Weltbilder vertrugen sie sich immer weniger mit revolutionären Vorstellungen zur Ökonomie und Gesellschaft, wie sie ab dem 18. Jahrhundert vor allem von den Vorkämpfern der aufkommenden Bourgeoisie verbreitet wurden. Schon Imanuel Kant hatte Kritik an Newtons statischem Weltbild verübt, indem er u. a. das Konzept der Entwicklung unseres Sonnensystems aus Gasnebeln vertrat[9]. Jetzt trat auch die Geologie auf den wissenschaftlichen Plan und entdeckte, „… daß nicht nur die Erde im ganzen und großen, daß auch ihre jetzige Oberfläche und die darauf lebenden Pflanzen und Tiere eine zeitliche Geschichte hatten“ [10].

Charles Darwin`s epochales Werk über den „Ursprung der Arten durch natürliche Zuchtwahl“ trug dem sich auch in der Biologie allmählichen festsetzenden Entwicklungsgedanken Rechnung und belegte das evolutionäre Naturentwicklungskonzept durch empirische Belege. Diese hatte Darwin als junger Mann während einer Schiffsreise um die Welt gesammelt. Mit seiner öffentlichen Auswertung wartete er lange, weil er negative Konsequenzen durch die Einflüsse der englischen Staatskirche an den Universitäten fürchtete. Das 1859 endlich erschienene Werk wird von FE sofort studiert, gewürdigt und 1860 zusammen mit KM kritisch hinterfragt. Es bildete einen Ausgangs- und Bezugspunkt für FE`  spätere Schrift „Der Anteil der Arbeit bei der Menschwerdung des Affen“. In ihr betrachtet er vor allem die Schnittstelle von Biologischem und Sozialem bei der menschlichen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung von Hand, Sprache und Arbeit.

Noch zwei weitere naturwissenschaftliche Entdeckungen fanden das besondere Interesse von FE. Dabei handelte es sich einerseits um die Entdeckung der organischen Zelle als Grundform aller lebender Organismen schon in der ersten Hälfte des 19. JH, des organischen Stoffwechsels und der Proteine (Eiweiße). Eine dialektische, aber – wie er selbst schrieb – noch „sehr unzureichende“ Fassung der Definition von Leben drängte sich ihm auf:

„Das Leben, die Daseinsweise des Eiweißkörpers besteht also vor allem darin, daß er in jedem Augenblick er selbst und zugleich ein anderer ist; und dies nicht infolge eines Prozesses, dem es von außen her unterworfen ist, wie es auch bei toten Körpern der Fall sein kann. Im Gegenteil, das Leben, der durch Ernährung und Ausscheidung erfolgende Stoffwechsel ist ein sich selbst vollziehender Prozeß, der seinem Träger, dem Eiweiß, inhärent, eingeboren ist, ohne den es nicht sein kann“[11].

Drittens fühlte sich FE besonders von den Entwicklungen im Bereich der Wärmelehre (Thermodynamik), welche mit dem Aufkommen der Dampfmaschinen von immer größerer praktischer Bedeutung wurden, herausgefordert. Sein Interesse galt vor allem den Naturgesetzen zur Erhaltung der Energie und der Umwandlung der Energiearten, Energie kann weder erzeugt noch vernichtet werden, sondern nur von einer Form in eine andere umgewandelt werden (sog. Erster Hauptsatz der Thermodynamik)  wie sie von verschiedenen Physikern (Mayer, Joule, Helmholtz) entdeckt und formuliert worden waren. Sie bestätigten seine Thesen von der Bewegung und dem ewigen Kreislauf der Kräfte in der Natur. Schwerer tat er sich dagegen mit dem Zweiten Hauptsatz, dem der Energieentwertung von Rudolf Clausius (1867), wonach die bei  Energieumwandlungsprozessen beteiligte Wärmeenergie „verloren geht“, insofern sie nicht von einem Körper niedriger auf einen Körper höherer Temperatur übergehen kann. Energieerhaltung und Energieentwertung treten bei allen Prozessen in der Natur und Gesellschaft demnach gleichzeitig auf. Übertragen auf den Kosmos führte dies zur These von schließlichen „Wärmetod“ des Weltalls, wenn alle anderen Energieformen in gleichmäßig verteilte Wärme umgewandelt sind. FE sah in dieser These eine unlogische Rückkehr des Schöpfungsweltbildes:

„Die Weltuhr muss aufgezogen werden, dann läuft sie ab, bis sie ins Gleichgewicht gerät, aus dem nur ein Wunder sie wieder in Gang bringen kann. Die zum Aufziehn verwendete Energie ist verschwunden, wenigstens qualitativ, und kann nur durch einen Anstoß von außen hergestellt werden. Also war der Anstoß von außen auch im Anfang nötig …“[12].

Bis heute ist aber die Gültigkeit des 2. Hauptsatzes für geschlossene Systeme, natürlicher oder technischer Art, unbestritten. Ungelöst ist dagegen die auch von FE implizit angesprochene Problemstellung, inwieweit die beobachteten kosmischen Entwicklungs- und Selbstorganisationsprozesse sich damit vertragen bzw. ob man das Weltall als abgeschlossenes System betrachten kann.

FE diskutiert in seiner DdN viele weitere Themen, auf die aus Platzgründen hier nicht näher eingegangen werden kann: Den Atomaufbau der Materie, die Fortschritte in der Chemie, welche schließlich in das Periodensystem der Elemente mündeten und Fragen wie die nach der Größe und Entwicklung des Kosmos. Er schloss sich der These an, wonach das Weltall größer sein müsse als unsere Galaxie, weil die entdeckten „Nebelflecken“ weitere Galaxien darstellen würden, und dass das Weltall selbst einen dynamischen Entwicklungsprozess durchmacht. Erst in den 30er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts setzten sich diese Auffassungen endgültig durch.

Natürlich stellten auch die im 18. und 19. Jahrhundert neu gewonnenen Erkenntnisse über den Zusammenhang von Elektrizität und Magnetismus (Oerstedt, Faraday) einen Anziehungspunkt seiner Aufmerksamkeit dar. Offensichtlich bedingt durch den Abbruch seiner Arbeit an der DdN beschäftigte er sich nicht näher mit der Maxwell`schen Theorie des Elektromagnetischen Feldes. FE blieb beim damals maßgeblichen Verständnis von Ätherschwingungen als Grundlage von Licht- und Wärmeübertragung stehen und vertiefte seine Betrachtungen an diesem wichtigen Punkt nicht[13].

4. Engels` dialektisches Naturverständnis

FE`s Betrachtungen naturwissenschaftlicher Einzelergebnisse münden entsprechend seiner Zielsetzung in philosophisch-dialektische Verallgemeinerungen bzw. Zuspitzungen. Zwei Punkte möchte ich hier herausheben:

Erstens seine Gegenüberstellung von, wie er selbst formuliert, metaphysischer und dialektischer Methode in der Naturforschung (subjektive Dialektik);
Zweitens seine Schlussfolgerungen zur Naturdialektik (objektive Dialektik).

Ich fange mit dem zweiten Punkt, der FE`schen Logik entsprechend, an. Danach ist die Natur nichts Statisches, sondern ein durch fortwährenden Wandel, durch Bewegung gekennzeichnetes Geschehen, welches sich sowohl in kosmischen Prozessen wie auch in der Entwicklung des Menschen (Hand und Arbeit, Sprache, Bewusstsein) nachvollziehen lässt. FE`s Schlüsselbegriff ist der der „Bewegung“:

„Bewegung im allgemeinsten Sinn, in dem sie als Daseinsweise, als inhärentes Attribut der Materie gefasst wird, begreift alle im Universum vorgehenden Veränderungen und Prozesse in sich, von der bloßen Ortsveränderung bis zum Denken“[14].

Wichtige, dialektisch gedeutete Konsequenzen seines dynamischen Weltbildes von der Natur (Naturdialektik) sind:

  • ·Die sich bewegende Natur  ist unerschaffbar und unzerstörbar;
  • ·Bewegung beruht auf Wechselwirkungen – was „hier Ursache ist dort Wirkung“[15];
  • .man kann niedere von höheren Bewegungsformen unterscheiden[16];
  • ·jede niedere Bewegungsform geht dialektisch in eine höhere Form über – Umschlag von Quantität in Qualität;
  • ·eine höhere Bewegungsform enthält in sich die niedrigere, lässt sich aber nicht auf sie zurückführen – Entwicklung als Negation der Negation.

FE führt eine ganze Reihe von Beispielen für die Relevanz seiner „objektiven Dialektik“ an. Es macht aus meiner Sicht vor allem Sinn, diese (und weitere) auch auf der Grundlage seiner Auseinandersetzung mit der Metaphysik, von ihm  als „Subjektiver Nichtdialektik“ verstanden, zu diskutieren.

„Für den Metaphysiker sind die Dinge und ihre Gedankenabbilder, die Begriffe, vereinzelte, eins nach dem andern und ohne das andere zu betrachtende, feste, starre, ein für allemal gegebne Gegenstände der Untersuchung. Er denkt in lauter unvermittelten Gegensätzen … Für ihn existiert ein Ding entweder, oder es existiert nicht … Diese Denkweise erscheint uns auf den ersten Blick deswegen äußert plausibel, weil sie diejenige des gesunden Menschenverstandes ist. Allein der gesunde Menschenverstand, ein so respektabler Geselle er auch in dem hausbackenen Gebiet seiner vier Wände ist, erlebt ganz wunderbare Abenteuer, sobald es sich in die weite Welt der Forschung wagt …“[17]

Dagegen:

„Für die Dialektik …, die die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehn und Vergehn auffaßt[18], sind Vorgänge wie die obigen, ebensoviel Bestätigungen ihrer eigenen Verfahrensweise. Die Natur ist die Probe auf die Dialektik, und wir müssen  es der modernen Naturwissenschaft nachsagen, dass sie für diese Probe ein äußerst reichliches, sich täglich häufendes Material geliefert und damit bewiesen hat, daß es in der Natur, in letzter Instanz, dialektisch und nicht metaphysisch hergeht[19].

Als eines von vielen Beispielen verweist FE auf Darwins Entwicklungstheorie, in welcher sich ein scheinbarer Gegensatz von Notwendigkeit (Anpassung) und Zufall (Anpassungsmöglichkeit aufgrund von zufälligem Zusammenkommen von Natur und Umwelt) verbirgt[20]. Hier und an weiteren Stellen wirbt FE für ein neues Objektverständnis der Naturwissenschaft, eines, dass nicht an der realen Widersprüchlichkeit des Gegenstandes scheitern muss. Als methodisches Hilfsmittel bei der Bewältigung der unvermeidlichen, beträchtlichen Schwierigkeiten beim Erkennen und Verstehen der Natur hat aus seiner Sicht die Naturwissenschaft das hypothesengeleitete Vorgehen entwickelt:

„Die Anzahl und der Wechsel der sich verdrängenden Hypothesen – bei mangelnder logischer und dialektischer Vorbildung der Naturforscher – bringt dann leicht die Vorstellung hervor, daß wir das Wesen der Dinge nicht erkennen können. Dies ist der Naturwissenschaft nicht eigentümlich, da alle menschliche Erkenntnis in einer vielfach verschlungenen Kurve sich entwickelt …“[21]

FE`s Abgrenzung zur metaphysischen Naturauffassung ermöglichte ihm auch eine konsequente Abgrenzung vom naturwissenschaftlichen Vulgärmaterialismus[22], der „intellektuellen Begleitmusik der kapitalistischen Industrialisierung Deutschlands“[23]. Dessen Vertreter Mitte des 19. Jahrhunderts (wie Ostwald und Haeckel) interpretierten die einzelwissenschaftlichen Forschungsergebnisse nicht als – immer vorläufige – Widerspiegelungen der betrachteten Ausschnitte der Naturrealität, sondern als die „Realität an sich“. Die Entwicklung der Naturwissenschaft führte in ihren vulgärmaterialistischen Interpretationen zu Erklärungswidersprüchen (weiter oben), zu falschen Verallgemeinerungen (z. B. den Sozialdarwinismus), zum blanken Empirismus (es gelten nur einzelwissenschaftliche Ergebnisse) bzw. Positivismus (Falsifizierung als zentrales Erkenntnismittel) und schließlich bis hin zum heutigen, radikalen Konstruktivismus (Realität ist das, was sich die Gehirne der Menschen konstruieren).

5. Die Naturwissenschaftliche Revolution geht in eine neue Entwicklungsphase

Die Naturwissenschaft, mit der FE sich auseinandersetzt, ist einerseits revolutionär, aber weitgehend immer noch auf Gegenstandsbereiche bezogen, welche „wir Menschen unmittelbar, wahrnehmend und handelnd, sensorisch und motorisch bewältigen“[24]. Zwar wurde damals schon intensiv über den Kosmos und den Aufbau der Materie aus Atomen diskutiert, aber hierzu existierten noch keine empirisch überprüfbaren Konzepte. Mit den Theorien des elektromagnetischen Feldes (Maxwell) und der elektromagnetischen Lichtwelle (Hertz) gelangen gleichwohl schon im 19. Jahrhundert wichtige Schritte in Richtung der modernen, heutigen Physik. Beide Entdeckungen wurden von FE wahrscheinlich aus Zeitgründen nicht als die wissenschaftlichen Revolutionen wahrgenommen, welche sie waren. Er akzeptierte noch die Äthertheorie, wonach ein noch unbestimmter materieller Träger den Kosmos ausfülle und für die Ausbreitung des Lichtes sorge.

Das elektromagnetische Feld und die sich ausbreitenden elektromagnetischen Wellen  benötigen jedoch keine Trägersubstanz – sie existieren, pflanzen sich fort und übertragen Energie und Information auch im Vakuum des Weltalls. Mindestens so erstaunlich ist, dass sich die Lichtwellen im Vakuum immer mit einer konstanten Geschwindigkeit (etwa 300tsd. km/s) fortpflanzen, unabhängig davon, wie schnell sich der Körper bewegt, von dem sie ausgehen. Erst Einstein konnte diesen Widerspruch zur Newton`schen Mechanik, nach dem sich die Geschwindigkeiten von Körpern addieren müssen, durch ein radikal neues Verständnis von Zeit, Raum und Gravitation überwinden. Diese Überwindung brach mit der Vorstellung, dass es für alle Körper im Kosmos, unabhängig von deren relativer Bewegung zu anderen Körpern, eine identische Zeit auf einer unveränderlichen Raumbühne geben würde (Spezielle Relativitätstheorie). Sie endete mit der Allgemeinen Relativitätstheorie über die gegenseitigen Abhängigkeiten (Wechselwirkungen) von Raum, Zeit und Massen. Diese Theorie vom „Ganz Großen“ wurde mehrfach empirisch belegt und gehört zum festen Bestandteil aller modernen physikalischen Theorien und natürlich auch der kosmologischen Physik.

Praktisch zeitgleich entwickelte sich im ersten Drittel des 20. JHs eine revolutionär neue, physikalische Theorie vom „Ganz Kleinen“. Auch sie, die Quantenmechanik, ging aus Untersuchungen über die „widersprüchlichen“ Eigenschaften der Lichtes hervor: Es verhält sich, z. B. in den aus dem Physikunterricht bekannten Doppelspaltexperimenten wie eine Welle, in anderen Experimenten wie ein Korpuskelstrahl[25]. Diese Doppelnatur ist übrigens nicht auf Lichtstrahlen beschränkt, sie konnte bald auch bei Elektronenstrahlen und sogar bei größeren Molekülen nachgewiesen werden. Schrödinger entwickelte das mathematische Modell zur Verhaltens- und Bewegungsbeschreibung dieser „ganz kleinen“ Teilchen als eine sich durch den Raum bewegende Welle der Aufenthaltswahrscheinlichkeiten. Diese Schrödinger-Gleichung beinhaltet das sogenannte Wirkungsquantum, eine von Max Planck um die Wende zwischen 19. und 20. Jahrhundert entdeckte und theoretisch beschriebene, fundamentale Naturkonstante[26], die den kleinstmöglichen Energieumsatz eines „Wellen-Korpuskel-Systems“ im Verhältnis zu seiner Schwingungsfrequenz angibt. Heisenberg erklärte weitere, erstaunliche Verhaltensweisen von sehr kleinen Objekten mit einer Theorie (sog. Unschärferelation), wonach man ihren Ort und ihre Bewegung niemals gleichzeitig präzise bestimmen kann.

Ohne die Quantenmechanik hätten der Aufbau und die Reaktionspotentiale von Atomen und Molekülen nicht verstanden werden können. Das von mehreren Physikern (v. a. Rutherford, Bohr, de Broglie, Dirac, Pauli) schrittweise entwickelte, heutige Atommodell umfasst sowohl eine quantenmechanische Beschreibung der Elektronenhülle (diese ist anders aufgebaut als beispielsweise ein Planetensystem) als auch eine Modellvorstellung von über einhundert Elementarteilchen (das sog. Standardmodell) und ihren Wechselwirkungen. Nicht nur die moderne Chemie, sondern auch die Halbleitertechnik beruht darauf und ermöglichte unter anderem die Entwicklung von Mikrocomputern und Hochleistungs-Diagnosetechnik, aber leider auch die der Atombombe.

Beide Konzepte, das vom „Ganz Großen“ und jenes vom „Ganz Kleinen“, sind qualitativ unterschiedlich und nicht gegenseitig ableitbar[27]. Dennoch sind sie gültig, weshalb man forschungspraktisch und technisch sehr gut darauf aufbauen kann. Beim Blick auf die Naturforschung des 20. Jahrhunderts darf man aber auch die beeindruckenden Entwicklungen in der Mathematik (Chaostheorie) und die Entdeckung der Prinzips der Selbstorganisation in breiten Feldern der unbelebten und belebten Natur nicht übersehen. Selbstorganisierte Strukturbildung ist ein kollektives Phänomen eher im Bereich mittlerer Größenordnungen – sie setzt ein, wenn bestimmte Prozesse sich oft genug wiederholen und dabei viele Teilchen zusammenwirken. Ohne eine zur Selbstorganisation fähige Natur wäre die Strukturbildung des Kosmos und seiner Bestandteile und der hochkomplexe Aufbau der Materie einschließlich der Entstehung von Leben nicht erklärbar.

Die drei genannten Erkenntnisse haben zusammengenommen die Kosmologie so vorangebracht, dass wir heute über eine breit anerkannte Modellvorstellung von der kosmologischen Entwicklung in den ersten Sekundenbruchteilen nach dem sogenannten Urknall bis zur heutigen Zeit, etwa 13,7 Mrd. Jahre danach, verfügen. Aber: Je tiefer die damit verbundenen Erkenntnisse, desto schwieriger scheint die Beantwortung der sich daraus ergebenden, neuen Fragen zu sein.

Natürlich gab es revolutionäre wissenschaftliche Durchbrüche auch in Bereichen außerhalb der Physik. Zu erinnern ist hier vor allem an die Entdeckung der DNA und den damit verbundenen Vererbungsmechanismus bei allen Lebewesen.

6. Was ist dialektisch an der modernen Naturwissenschaft?

Hat die moderne Naturwissenschaft nun die dialektisch-kritische Perspektive von FE erübrigt? Sie hat sie sicherlich nicht widerlegt, das kann vorab behauptet werden, weil viele Erkenntnisprobleme, die sich einer mechanisch-metaphysischen Betrachtung widersetzen, geblieben und neue hinzugekommen sind. Nicht nur die reale Widersprüchlichkeit des derzeitigen naturwissenschaftlichen Gebäudes kann mit einer rein formallogischen Problemlösung nicht aufgelöst werden. Auch das Postulat, wonach nur noch die eine, fundamentale Weltformel gefunden werden müsse, aus der man dann alle Phänomene jeglicher Größenordnung und Komplexität ableiten könne, lässt sich als metaphysisches erkennen und zieht immer mehr Zweifel an. Wir können uns also FE Schlussfolgerung heute erst recht anschließen:

„Ein allumfassendes, ein für allemal geschlossenes System der Erkenntnis von Natur und Geschichte steht im Widerspruch mit den Grundgesetzen des dialektischen Denkens; was indessen keineswegs ausschließt, sondern im Gegenteil einschließt, daß die systematische Erkenntnis der gesamten äußeren Welt von Geschlecht zu Geschlecht Riesenschritte machen kann“.[28]

Kaum ein heutiger Naturwissenschaftler(-in) wird aber sein Denken und seine Vorstellung von der Natur ausdrücklich als dialektisch verstehen. Dieses Phänomen hat mehrere Gründe – auf einen Grund hat FE selbst hingewiesen:

„Vielleicht aber macht der Fortschritt der theoretischen Naturwissenschaft meine Arbeit größtenteils oder ganz überflüssig. Denn die Revolution, die der theoretischen Naturwissenschaft aufgezwungen wird, ist der Art, daß sie den dialektischen Charakter der Naturvorgänge mehr und mehr auch dem widerstrebensten Empiriker zum Bewußtsein bringen muß. Die alten Gegensätze, die scharfen, unüberschreitbaren Grenzlinien verschwinden mehr und mehr“.[29]

Verfolgt man ein wenig die grundlegenden Debatten in der heutigen Naturwissenschaft – hier gibt es Zugänge, deren Nutzung kein entsprechendes Studium voraussetzen – dann wird man auf viele Fragen stoßen, die die Engel`sche Dialektik zwar nicht direkt beantworten, wo sie aber helfen kann, sie richtig einzuordnen und zu gewichten. Dies ist ihre heuristische Funktion, welche durchaus auch innerhalb der heutigen Naturwissenschaft Anerkennung finden sollte.

So wie KM mit seinem „Kapital“ einen Weg aufzeigte, um die Widersprüchlichkeit der „ökonomischen“ Strukturen und Bewegungsformen zu erkennen und daraus Entwicklungstendenzen und Eingriffspunkte abzuleiten, hat dies FE mit seiner DdN für die naturwissenschaftliche Erkenntnis versucht. Er ist dabei nicht an dem Punkt angekommen, der für ihn erreichbar gewesen wäre, hätte er die Zeit dazu gehabt. Die Nichtvollendung seiner Kraftanstrengung hat eine theoretische Lücke hinterlassen, die zu Missverständnissen wie Missbräuchen einlud. Nicht zuletzt fehlt dem Bildungskanon des modernen Naturwissenschaftlers durch diese Lücke ein „Klassiker“.

7. Perspektiven und Nutzen einer dialektischen Naturauffassung

Haben nach FE marxistische Theoretiker an der Dialektik der Natur und dem fundamentalen Dialektischen Materialismus weitergearbeitet? Dies war durchaus der Fall, allerdings in wesentlich geringerem Umfang als dies beim Historischen Materialismus und der Politischen Ökonomie geschah und weiter geschieht. Nennenswerte Forschungsressourcen gab es dazu in den sozialistischen Ländern, nicht zuletzt der Sowjetunion. In den beiden deutschen Staaten fand das Thema durchaus Aufmerksamkeit und Bemühen, wobei der Schwerpunkt aus Ressourcengründen in der DDR, insbesondere in der dortigen Akademie der Wissenschaften, lag. Hier hat die Forschungsgruppe um Herbert Hörz bis zuletzt, d. h. der Auflösung der Akademie im Zuge des DDR-Anschlusses, daran gearbeitet und 1991 ein imposantes Ergebnis produziert. In dieses Endprodukt wurden viele Forschungsergebnisse aus der UdSSR eingearbeitet, so dass es berechtigt den selbstbewussten Titel „Dialektik der Natur und der Naturerkenntnis“[30] tragen kann.

Wen überrascht es, dass dieses Erbteil der DDR auf der Stelle begraben und nicht verlegt wurde. Die schon fertiggestellten Druckfahnen gingen glücklicherweise nicht verloren. Sie wurden wiedergefunden, digitalisiert und das Werk kann seit 2013 im Internet[31] heruntergeladen werden. Der Ausdruck der über 400 Seiten ist kein Pappenstiel, erst recht nicht die Lektüre, aber sie kann den am Thema Interessierten nur empfohlen werden. Es dürfte weit und breit kein vergleichbares deutschsprachiges Werk verfügbar und so schnell auch nicht mehr machbar sein.

Auch in der alten Bundesrepublik wurde an diesem Thema gearbeitet – es gab z. B. im April 1987 eine Konferenz der Marx-Engels-Stiftung „Zu Umwälzungen in den heutigen Naturwissenschaften“, deren Vorträge und Diskussionen veröffentlicht wurden[32].und in neuerer Zeit war dem Thema Hirnforschung das Heft 4-14 der Marxistischen Blätter gewidmet. Natürlich kann auf die vielen Beiträge von Hans Heinz Holz zum dialektischen Denken nicht ausdrücklich genug hingewiesen werden. Bemerkens- und lesenswert ist auch die „Neuentdeckung“ der DdN durch Elmar Altvater und sein Versuch, die Verbindungen zwischen der Naturdialektik und der Politischen Ökonomie aufzuzeigen und politisch zu bewerten[33].

Dennoch bleibt zum Schluss die Frage: Ist der Dialektische Materialismus mit seinem Blick auf die Naturwissenschaften und deren Entwicklung nicht kaum mehr als eine Art Abrundung, eine Verzierung des Marxismus? Oder schlimmer noch: Eine stalinismusverdächtige Verirrung, die man tunlichst meiden sollte?

Oder ist der Dialektische Materialismus und die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichem Wissen das Fundament einer wissenschaftlichen Weltanschauung, die den „Gesamtzusammenhang“ (H. H. Holz) von Natur, Mensch und Gesellschaft betrachtet und dem religiösen und nichtreligiösem Irrationalismus und dem modernen Agnostizismus entgegensteht?

Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass Robert Steigerwald einige wichtige Argumente zusammengestellt hat, „Warum und wie sich Marxisten mit Naturwissenschaften befassen sollten“[34]. Dabei bezieht er sich nicht zuletzt auch auf die Arbeiten von FE. Erstens weist er darauf hin, dass ein im Engels`schen Sinne metaphysisches Verständnis von Natur und Naturerkennen auch heute noch genutzt wird, um beispielsweise den sog. Urknall als göttliche Weltschöpfung, die Nichtexistenz von Materie, die Nichterkennbarkeit von Welt und Natur und das Fehlen von Kausalität im Natur- und Gesellschaftsgeschehen zu beweisen. Bei diesen „Beweisen“ werden jeweils bestimmte naturwissenschaftliche Einzelergebnisse aus dem theoretischen Zusammenhang herausgelöst und in metaphysischer Manier interpretiert und verallgemeinert.

Zweitens betrachtet er den naturwissenschaftlichen Weg der Wissensgewinnung und -erweiterung um zu zeigen, wie einzelwissenschaftliche Erkenntnisse aus der Dreierkonstellation

  • Forschungssubjekt (bzw. Forscherkollektiv)
  • intellektuellem Forschungsinstrument (Begriffe, Aussagesätze, mathematische Modelle, experimentelle Anordnungen) und
  • dem nicht direkt erfassbarem Forschungsobjekt

Schritt für Schritt erarbeitet werden. Eine bloße Aufsummierung von Einzelwissen führt aber nicht zur Welterkenntnis. Dies wiederum scheint mir heute unter Naturwissenschaftlern klarer zu sein als bei den  Gesellschaftswissenschaftlern.

Die Gewinnung von „Weltwissen“ kann, zum dritten, nur durch theoretisch-philosophische Arbeit geleistet werden. Dabei ist das dialektische Denken (im Sinne Hegels und Engels) ein mächtiges Instrument, insofern es – obwohl nicht mit der Naturdialektik identisch – kompatible Zugänge eröffnet und zugleich eine Methodenbrücke zwischen Natur- und Gesellschaftswissenschaften aufspannt.

Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.

aus: Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte, 1844

Anmerkungen:

[1]    Siehe E. Altvater, Engels neu entdecken, Hamburg (VSA) 2015, S. 33 f.
[2]    Der Band 20 der Marx-Engels-Werke enthält die DdN einschließlich der Inhaltsverzeichnisse der vier Konvolute.
[3]    G. Fülberth, Marxismus, Köln (Papyrossa) 2014
[4]    Aus dem Antidühring-Vorwort; MEW 20, S. 11 – 13
[5]    MEW 20, Vorwort XV
[6]    Aus der Einleitung zur DdN, MEW 20, 312 f.
[7]    Anfang des 19. JHs postulierte der Mathematiker Pierre-Simon Laplace, dass ein hypothetisches Wesen (Dämon) in der Lage sein könne, alle künftigen Ereignisse vorherzusagen, wenn ihm dazu Infomationen über die Positionen, Massen und Geschwindigkeiten aller Atome im Weltall zur Verfügung ständen.
[8]    MEW 20, S. 314
[9]    1755 veröffentliche Kant seine „Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels“
[10]  MEW 20; S.317
[11]  Aus dem Antidührung – Erster Abschnitt: Philosophie; MEW 20, S. 76
[12]  MEW 20; S. 545
[13]  MEW 20, Kapitel Elektrizität, S. 394 ff.
[14]  Grundformen der Bewegung; MEW 20, S. 354
[15]  Dialektik; MEW 20; S. 499
[16]  FE versucht ausgehend davon auch eine Klassifizierung der Naturwissenschaften – von der einfachen Körperbewegung bis hin zur Biologie der Eiweißkörper
[17]  Antidührung – Einleitung; MEW 20, S. 20 f.
[18]  FE knüpft an Hegel bzw. an der These an, dass das Wesen der Dinge nicht aus dem Ding als solchem, sondern nur aus seinem Unterschied bzw. aus seiner Beziehung zu anderen zu verstehen ist.
[19]  Antidühring a. a. O. S. 22
[20]  DdN – Dialektik; MEW 20;S. 489 f.
[21]  DdN – Notizen und Fragmente; MEW 20, S. 507
[22]  DdN – Notizen und Fragmente; MEW 20, S. 516 ff.
[23]  R. Steigerwald, Warum und wie sollten sich Marxisten um Naturwissenschaft kümmern?; Masch Skripte 2_06, S. 3
[24]  H. Hörz / U. Röseberg (Hg.), Dialektik der Natur und Naturerkenntnis, Max Stirner Archiv Leipzig 2013, S. 129
[25]  Schon im 17. Jahrhundert gab es einen Streit zwischen I. Newton als Verfechter der Korpuskulartheorie und Chr. Huygens, der davon ausging, dass das Licht eine Wellennatur besäße.
[26]  Neben der Gravitationskonstante und der Lichtgeschwindigkeit.
[27]  Unter der Überschrift Quantengravitation wird seit längerer Zeit versucht, bisher ohne empirisch überprüfbare Ergebnisse, einen gemeinsamen Theorieüberbau  zu schaffen.
[28]  Antidühring – Einleitung; MEW 20, S. 24
[29]  Vorwort zum Antidühring von 1885; MEW 20, S. 13
[30]  Herbert Hörz / Ulrich Röseberg (Hg.): Dialektik der Natur und der Naturerkenntnis; mit einem aktuellen Vorwort von John Erpenbeck; Verlag Max Stirner Archiv / edition unica Leizig 2013
[31]  max-stirner-archiv-leipzig.de/philosophie.html#HoerzRoesebergDialektik
[32]  Marx-Engels-Stiftung  (Hg.), Zu Umwälzungen in den heutigen Naturwissenschaften. Wuppertal 1988
[33]  E. Altvater, Engels neu entdecken, Hamburg (VSA) 2015
[34]  R. Steigerwald 2006, a. a. O. siehe http://www.neue-impulse-verlag.de/veroeffentlichungen/masch-skripte/8-warum-und-wie-sollten-marxisten-sich-um-naturwissenschaft-kuemmern.html