Die ČSSR im Jahre 1968 – Demokratisierung oder Konterrevolution

Von Klaus Kukuk

Kaum ein historisches Ereignis, das über Jahrzehnte so widersprüchlich interpretiert wurde und mit so festgefahrenen und festgeklopften Vorurteilen überfrachtet ist wie die Vorgänge jener Jahre 1967 bis 1969.

Die einen sehen darin den Versuch einer konterrevolutionä­ren Erosion des realen Sozialismus in der Tschechoslowakei und damit verbundenen erhofften Auswir­kungen auf die ganze sozialistische Gemein­schaft. Ein großer Teil der politisch interessierten Bevölkerung in der Tschechoslowakei glaubte, subjektiv ehrlich, ver­schwommenen Visionen eines vermeintlichen Sozialismus mit mensch­lichem Antlitz. Die Gruppe um Dubček, die diese Vision nach Kräften und mit allen Mitteln verbreite­te, verband mit dem Anspruch, etwas Bahnbrechendes angehen zu wollen, einen geradezu messianischen Ansatz. Eine dritte Gruppe verkörperten die intellektuellen Macher und Organisatoren, die hinter sozialistischer Phraseologie ihre wah­ren kon­terrevolutionären Ziele verbrämten und maskierten.

Der erwähnte messianische Ansatz, der in den tschechoslowakischen Massen­medien euphorisch verbreitet wurde, wurde bemerkenswerterweise von der Dubček-Gruppe in den zahlreichen bi- und multilateralen Verhandlungen mit den sozialisti­schen Verbündeten nie genutzt, um über Allgemeinplätze hinausgehende Vorstellungen zu entwickeln, worin die deklarierte „Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft“ eigentlich bestehen solle. In diesen Verhandlungen wurden geschönte Selbstdarstellungen dargeboten, die der bewussten Täuschung der Verbündeten dienen sollten. Das ist die schonungslose Wahrheit, die die offen gelegten Archivdokumente belegen. In der innenpolitischen Selbstdarstellung wurden – von unterschwellig bis unverblümt – die sozialistischen Verbündeten als konservativ, dogmatisch stigmatisiert.

Historiker werden zu bewerten und zu wichten haben, in welcher Weise führende Protagonisten des „Prager Frühling“ auf dem schmalen Grat von revisionistischer Absicht und konterrevolutionärem Ergebnis schwankten und wankten. In linken europäischen, darunter auch kommunistischen Parteien, (Italien, Frankreich, Spa­nien, Skandinavien) hält sich bis heute eine verklärte Vorstellung von jenen Entwicklungen der späten sechziger Jahre in der Tschechoslowakei. Einen erheblichen Anteil daran hatte eine die Lage grob verharmlosende Information des Generalsekretär des ZK der FKP, Waldeck-Rochet durch Dubček im Juli 1968 und analoge Desinformationen für andere Bruderparteien.

Wenn wir uns im eigenen Lande umschauen, begegnen wir unter den Linken – leider in erheblicher Zahl bis in Führungsgremien hinein – Visionäre von der Art, die demokratischen Sozialismus als Versuch verstehen, auf dem Wege von Reformen mit sozialdemokratischem Instrumentarium eine menschenfreundliche soziale Marktwirtschaft, also eine Art netten Kapitalismus herbeizureden.

Das Hinterfragen historisch konkreter Vorgänge vor fast 40 Jahren, ihrer Folgen und ihrer Lehren für das Heute ist also kein Disput über Gestriges. Er ist eingebettet in die globale Systemauseinandersetzung in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts und ist als Bestandteil der realsozialistischen Erfahrung ein Fundus für viele Fragen und Probleme, die uns noch erwarten.

In der Erinnerung von Zeitgenossen und in der heutigen „Erinnerungsberichterstattung“ überwiegen Schilderungen damaliger mehr oder weniger spektakulärer Vorgänge und Aktionen in den Ballungszentren Prag, Brno und Bratislava. Die Inhalte wurden möglichst in den Hintergrund gedrängt. Zur Auffrischung des Gedächtnisses bei den älteren unter uns und zum Verständnis der historischen Zusammenhänge für später Geborene einige Ausführungen zu Vorgeschichte und Hintergründen.

Konzeptionslosigkeit der Sozialismusverteidiger

Diejenigen tschechischen Kommunisten, die Veränderungen des Sozialismus in der ČSSR anstrebten und gestalten wollten, sind in das Dezember/Januar-Plenum der KPTsch von 1967/1968 lediglich mit Absichtserklärungen hineingegangen. Ihr erklärtes Ziel war die Ablösung des damaligen Ersten Sekretärs Antonín Novotný. Sie wussten im Dezember noch nicht einmal, wer ihn im Januar ablösen konnte, sollte oder wollte. Dieses Ziel einte zunächst alle politischen Strömungen im Zentralkomitee. Es gab folglich nur Befürworter. Aber aus sehr unterschiedlicher Motivation. Je nach politischem Standort .

Innerhalb der nächsten Wochen und Monate nach dem Januarplenum, schälten sich nach und nach die verschiedenen Strömungen heraus. Für die Kräfte, die den Sozialismus auf seinen Grundlagen weiterentwickeln wollten, stehen Namen wie Bilak, Indra, Husák, Kapek, Jakes, Kolder, Lenart, Hoffmann, Nový u. a. Jene Kräfte, die den Sozialismus abschaffen wollten (Mlynář, Šik, Goldstücker, Kriegel, Pelikan, Kohout, Liem u. a.) hielten sich hinter sozialistischer Phraseologie bedeckt und spielten bis in die siebziger Jahre hinein weitgehend mit verdeckten Karten.

Die vom Chefredakteur der Literaturzeitschrift „Literární noviny“, Ludvík Vaculík schon im Jahre 1967 auf dem Schriftstellerkongress gehaltene Rede über das „Verhältnis zwischen Staatsbürger und Macht, zwischen Macht und Kultur“ war eine erste offene Kampfansage und gezielte Provokation, deren weit reichende Bedeutung von der damaligen Parteiführung der KPTsch, auch von den Kräften um Vasil Bilak, nicht voll durchschaut worden ist.

1966 war die Reform Ota Šiks zur Veränderung der Planung und Leitung der Volkswirtschaft in Angriff genommen worden. Zur gleichen Zeit wurde an der Föderalis­musreform unter Leitung des damaligen stellvertretenden Ministerpräsidenten Gustav Husák gearbeitet. Seit dem XIII. Parteitag (1966) waren die von der KPTsch in Auftrag gegebenen theoretischen Vorgaben des Forscherkollektivs unter Leitung von Radovan Richta „Zivilisation am Scheideweg“ bekannt. Ihre konkrete Ausarbeitung, geschweige denn ihre praktische Umsetzung wurde nie in Auftrag gegeben. Die eigentliche Zielstellung Šiks für die Wirtschaftsreform hat er inzwischen selbst offen gelegt – das war  kapitalistische Marktwirtschaft westlicher Prägung. Die umfangreiche  Fach- und Memoirenliteratur hat bis bislang nichts zutage gefördert, was auf fundierte Konzepte zur Weiterentwicklung oder Reformierung des Sozialismus in der Tschechoslowakei hindeuten würde.

Konzepte darüber hinaus hatten nur diejenigen,

– die hinter sozialistischer Phraseologie in der Außenpolitik zunächst eine Neutralisierung und als Folge einen Austritt aus dem Warschauer Vertrag und damit eine Annäherung an die NATO angingen,

– die in der Gesellschaftspolitik die staatsrechtliche Umgestaltung in eine bürgerlich-parlamentarische Demokratie anstrebten und damit die Wiederherstellung der Verhältnisse vor dem Februar 1948 betrieben.

Die zutage getretene geradezu sträfliche Konzeptionslosigkeit jener politischen Kräfte in der Tschechoslowakei, die aus ehrlicher Überzeugung für eine Weiterentwicklung des sozialistischen Gesellschaft eintraten, war eine der wesentlichsten Ursachen für das damit schon vorprogrammierte Scheitern dieses deshalb eigentlich verantwortungslosen Experiments. Diejenigen Kräfte, die aus ehrlichen und hehren Motiven heraus den Sozialismus besser machen wollten, darunter auch Bilak, verstanden neben den auch aus ihrer Sicht notwendigen Veränderungen in der Planung und Leitung der Volkswirtschaft und der Föderalismusreform die Aufgabe in der Überwindung von Fehlern der Vergangenheit. Und genau Letzteres wurde von denjenigen Kräften genutzt, die von Anfang an gegen den Sozialismus gerichtete Ziele verfolgten und mit einer destruktiv angelegten Kritik die sozialistische Gesellschaft als Ganzes bewusst diskreditierten.

Anstehende Probleme, die der Weiterentwicklung der Gesellschaft im Wege standen, wurden in der 1. Hälfte der sechziger Jahre in ihrem Wesen erkannt, analysiert und ihre Lösung teilweise in Angriff genommen: 1963 die Rehabilitierung der in den Slansky-Prozessen Verurteilten, 1964/65 Analyse der Wirtschaftsprobleme, 1966 der Beschluss über „Grundsätze zur Vervollkommnung des Planungssystems der Volkswirtschaft“, Verabschiedung von Gesetzen: über Versammlungs- und Vereinigungs­freiheit, über die örtlichen Volksvertretungen (Nationalausschüsse), Bildung einer Staatlichen Kommission zur Vorbereitung einer föderativen staatsrechtlichen Lösung unter Leitung des stellvertretenden Vorsitzenden der Regierung Gustav Husák.

Weniger Aufmerksamkeit wurde offenen Dissonanzen in der Kultur- und Jugendpolitik gewidmet. In der Kunstpolitik vertraute die KPTsch auf die seit Jahrzehnten wirkende traditionelle Verbindung der tschechoslowakischen Intellektuellen mit der kommunistischen Partei. Das war auf ideologischem Gebiet die folgenschwerste Fehleinschätzung der Parteiführung. Sie vermochte nur ungenügend die Signale zu deuten, die von der von Eduard Goldstücker initiierten Kafka-Konferenz (27./28. Mai 1963) in Liblice ausgingen. Das war Nährboden für die Herausbildung oppositioneller Strömungen innerhalb der künstlerischen Intelligenz.

Es gab seit Mitte der sechziger Jahre in der Tschechoslowakei auf die Herausforderungen der wissenschaftlich technischen Revolution theoretisch fundierte komplexe gesellschaftspolitische Vorgaben und Aufgabenstellungen (Zivilisation am Scheideweg) die auf Weiterentwicklung des sozialistischen Gesellschaftssystems gerichtet waren und es gab zur gleichen Zeit – wie wir heute wissen – bedeckt gehaltene Konzepte zur staatsrechtlichen und ökonomischen Restauration (Mlynář und Šik).

In der damaligen Tschechoslowakei konnten alle politischen Kräfte den so genannten „Erneuerungsprozess“ so interpretieren, wie es ihnen passte. Die Erwartungshaltungen der Bevölkerung prägten unter dem im Januar 1968 ausgegebenen Stichwort „Besserer Sozialismus“ die Verbesserung der Lebensqualität durch Beseitigung von Disproportionen in der Lohn- und Rentenpolitik, Überwindung von Mängeln in der Versorgung und im Wohnungswesen, Überwindung von Reglementierungen, mehr Mitspracherechte, mehr Reisefreiheit, Überwindung von ideologischer Enge (z. B. in der Kultur) und Korrektur von Fehlern der Vergangenheit (Rehabilitierungen), in der Slowakei besonders in der Nationalitätenpolitik.

Demokratie, Meinungs- und Rede- und Versammlungsfreiheit spielten für die Mehrheit der Bevölkerung eine zweitrangige Rolle, darauf sprachen Intellektuelle, Schriftsteller, Studenten und Journalisten an.

Ziel: Beseitigung des Sozialismus

Eine Bewertung der Ereignisse von 1968/69 war für den politisch Interessierten wie für den Zeithistoriker ein anfangs durchaus schwer durchschaubarer gesellschafts­politischer Komplex. Die Charta 77 sorgte dann im In- und Ausland für weitere Desillusionierungen über die wahren Ziele bei den einen und verstärkte die Hoffnungen auf die angedachten Systemveränderungen bei den anderen – ganz in Abhängigkeit von ihrer politischen Interessenlage. Ab Mitte der siebziger Jahre wurden schließlich die Karten von den Machern Mlynář (1974), Šik (1988), Pelikan, Vaculik und anderen in ihren Erinnerungen und in anderen Publikationen schon unverdeckt auf den Tisch gelegt. Wer Zugang zu diesen Publikationen hatte, konnte vom Prager Frühling ein Bild in klareren Konturen erkennen. Nach 1989 nahmen sie schon kein Blatt mehr vor den Mund. Mlynář – nach eigenem Bekunden ein Studienfreund Gorbatschows – räumte unumwunden ein, dass ein System westlich geprägten bürgerlich-demokratischen Parlamentarismus angestrebt worden war und Šik erklärte die sozialistische Terminologie in seinem Reformprojekt zum Feigenblatt, mit dem das Ziel, die Restauration des Kapitalismus, von Anfang an getarnt worden sei. Und Goldstücker soll im Jahre 1990 oder 1991 im Haus der Tschechoslowakischen Kultur in der Leipziger Straße von sich gegeben haben: „Für uns waren Dubček und seine Leute nur eine Zwischenlösung, denn direkt – ohne diesen Umweg – eine freiheitlich demokratische Grundordnung zu schaffen, schien uns zu riskant. Aber diese strebten wir an, das war von Anfang an unser Ziel!“

Die Methoden westlicher Einflussnahme wurden in Jahrzehnten weiterentwickelt. Die Versuchsfelder waren die DDR, Ungarn, Polen und die ČSSR. Sie trugen schließlich erheblich zu der Niederlage des europäischen realen Sozialismus im Jahre 1989 bei. Mit den Strategien wurde seitens des Westens gar nicht hinter dem Berge gehalten. Willy Brandt umriss schon 1963 in seinem Buch „Koexistenz – Zwang zum Wagnis“ (Stuttgart 1963) die Konturen jener Strategie, die später als „Wandel durch Annäherung“ durch Egon Bahr konkretisiert wurde. Die prägnanteste Zielstellung enthält eine Formulierung in dem Buch von Günter Nenning, in den sechziger Jahren Sekretär der Sozialistischen Internationale (In „Sozialdemokratie“ Wien/Frankfurt 1963, S.197): „Der Kommunismus hat Zukunft. Seine Zukunft heißt Sozialdemokratie.“ Markante Beispiele lieferten auch F. J. Strauß und Z. Brzezinski mit ihren1966 erschienenen Büchern. Den tschechoslowakischen Spitzenpolitikern jener Jahre darf man unterstellen, dass ihnen westliche Strategien damals bekannt waren. Folglich darf man auch schlussfolgern: die Dubček- Führung – und vor allem die Reformvordenker – waren sich dessen bewusst, wohin der eingeschlagene Weg führt, mithin, sie wussten, was sie taten.

Gesteuerte Eskalation

Das verdeckte Agieren der angeblichen Reformer und die in allen Medien strapazierte griffige Losung vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz weckte in der Bevölkerung die verschiedensten Erwartungen. Mit endlosem Taktieren, mit der verschwommenen Zielstellung jenes imaginären „Sozialismus mit menschlichen Antlitz“ als Reformziel wurden nicht nur Millionen gutgläubiger Menschen in der Tschechoslowakei, die die Notwendigkeit von Veränderungen spürten, getäuscht, sondern auch der internationalen Öffentlichkeit Potemkinsche Dörfer präsentiert. Die tschechoslowakischen Medien haben keinen Aufwand gescheut, in diesem Sinne die Bevölkerung zu manipulieren. Diese kurz nach dem Januar 1968 einsetzende umfassende Meinungsmanipulation durch die Print- und Elektronikmedien, hat die öffentliche Meinung nach Bedarf dirigiert, Kampagnen ausgelöst und gesteuert, Hysterie und Hetze geschürt, Un- und Halbwahrheiten verbreitet. Die selbsternannten „Progressiven“ haben allergrößten Wert darauf gelegt, nicht die Beschlüsse vom Januar, sondern prononciert das im „Frühling“ beschlossene Aktionsprogramm ins öffentliche Bewusstsein im In- und Ausland zu rücken. Es enthielt die von Šik, Mlynář und Richta hineinformulierten Denkansätze für prinzipielle Systemveränderungen. Als Beschluss des Zentralkomitees stellte dieses Konzept eine legale Basis dar, auf die sich die Rechten berufen konnten.

Als Markenzeichen des „Prager Frühling“ vergisst kaum einer seiner Chronisten und Interpreten, die vorgebliche Einführung demokratischer Verhältnisse durch die Dubček-Führung hervorzuheben. Zeitzeugen vor Ort konnten 1968 bis ins Frühjahr 1969 eine unbegrenzte Meinungsfreiheit für alle jene erleben, die sich zu den „Progressiven“ aller Couleur zählten und zugleich einen gleichermaßen grenzenlosen Meinungsterror bis zum Rufmord vor allem in Zeitungen, aber auch in Rundfunk- und Fernsehsendungen gegenüber jenen beobachten, die als „Konservative“ und „Dogmatiker“ apostrophiert und zum Teil physisch verfolgt, gehetzt und gejagt wurden. Juristische Beobachter hätten in dieser Zeit Tag für Tag in der Öffentlichkeit auf Äußerungen stoßen können, die Straftatbestände von Verleumdung über Nötigung bis zur Volksverhetzung erfüllt hätten. In dieser Atmosphäre hat kein Staatsanwalt gewagt, als Ankläger zu ermitteln, er lief Gefahr, selbst zum Gejagten zu werden.

In den Ballungszentren Prag, Bratislava und Brno, dort, wo die Macher und Koordinatoren saßen, eskalierte in den Sommermonaten die Lage von Tag zu Tag. Die militanten Pressionen der „Straße“, die nach Bedarf und Anlass als „Volkswillen“ in Gang gesetzt wurden, gaben sich nicht einmal den Anschein demokratischen Verhaltens. Wenn es gegen die „Dogmatiker“ oder „Konservativen“ gehen sollte, dann wurden auch schon mal die Autonummern ihrer Fahrzeuge veröffentlicht und zur Jagd auf die Insassen geblasen. Der Begriff Rechtsstaatlichkeit gehörte bei den vorwiegend jugendlichen „Kämpfern für Demokratie und Freiheit“ ganz und gar nicht zu ihrem Vokabular. Die Massenhysterie auf der Straße erfasste bei weitem nicht das ganze Land, war aber in Ballungszentren wie Prag, Bratislava und Brno allgegenwärtig. Aktionen waren jederzeit abrufbar.

Die solidarischen Angebote der sozialistischen Verbündeten im März in Dresden im Juli und August in Čierna nad Tisou, Warschau, Karlovy Vary und Bratislava veranlassten die konterrevolutionären Kräfte zum Zugzwang. Sie hatten aus ihrer Sicht beizeiten begonnen, sich vorzubereiten. Die logistischen Strukturen für die Veränderung der Machtverhältnisse waren bereits im Sommer fertig. Der außerordentliche Parteitag der KPTsch, der – illegal einberufen – vor allem ohne die slowakischen Delegierten – auf „legalem“ Wege die kalte Machübernahme gewährleisten sollte, war an konspirativen Orten organisatorisch vollständig vorbereitet. Die Funktion der Befehlszentrale hatte sich die Stadtleitung Prag der KPTsch angemaßt. Das Zivilschutzsystem in Prag mit Kommandozentralen war durch sie für konspirative Zwecke aktiviert worden. Standorte für illegale konspirative Fernseh- und Rundfunksender waren bereits vorbereitet und mit der erforderlichen Sendetechnik ausgestattet. Es waren schwarze Listen für Verhaftungen und an entsprechende Lagerunterbringung vorbereitet worden. Die tschechoslowakischen Auslandsvertretungen folgten in ihrer Mehrzahl den Weisungen eines Außenministers, der damals alles dafür zu tun bereit war, die Tschechoslowakei aus dem Warschauer Vertrag herauszulösen und in die „Neutralität“ zu führen. Der Umschlag des vorgeblich gewaltfreien Vorgehens der oppositionellen Kräfte in „spontane“ Gewaltanwendung, also die Herbeiführung einer Bürgerkriegssituation, hatte seinen Platz im Kalkül der radikalen Opposition.

Das war die Sachlage vor dem 21.August.

„Probelauf“ für 1989

In einer solchen Situation war die Durchsetzung des Machtmonopols des Staates mit tschechoslowakischen Schutz- und Sicherheitsorganen und der Justiz das einzig geeig­nete Mittel, die verfassungsmäßige Ordnung zu gewährleisten. Der desolate Zustand der Machtstrukturen in den tschechoslowakischen Führungsebenen machte gerade dies unmöglich. Darin liegt die persönliche Verantwortung des 1.Sekretärs der KPTsch, Alexander Dubček, des Ministerpräsidenten Oldřích Černík und des Parlamentspräsidenten Josef Smrkovský. Die internationalistische Hilfsaktion der fünf sozialistischen Verbündeten – bekanntlich ohne Mitwirkung der NVA der DDR – war eine schwere, folgenreiche, letztlich aber alternativlose Entscheidung.

Die inzwischen bekannten historischen Tatsachen belegen: 1968 erweist sich als Probelauf für 1989. Oder anders formuliert: 1969 war man gescheitert, 1989 war die Reaktion erfolgreich. Nicht nur in der ČSSR. Insofern stimmt Bilaks seinerzeit getroffene Feststellung, dass ohne das Bündnis mit der Sowjetunion der Sozialismus in der ČSSR zum Scheitern verurteilt sei. Aber seine richtige Aussage galt auch in der Umkehrung – die Aufkündigung des Bündnisses durch die KPdSU hatte die gleichen Folgen. Und zwar für alle Beteiligten.

Der „samtene Revolution“ genannte konterrevolutionäre Umsturz in der ČSSR im November 1989 weckte vielerlei Hoffnungen. Eiferer für einen Sozialismus „mit menschlichem Antlitz“ hatten nicht etwa die Lust an ihrer Vision verloren, sondern sie waren schlicht am Ziel und brauchten sich nun nicht mehr zu verstellen.

Die tschechischen Kommunisten haben seither viel dafür getan, das sozialistische Erbe zu bewahren, die Geschichte der ersten historischen Form des Sozialismus, wie sie es nennen, aufzuarbeiten, zu analysieren und notwendige Schlussfolgerungen zu ziehen. Es bleibt noch viel dafür zu tun.

in: „Unsere Zeit“ Nr. 34/35 – 2008
Quelle:  Verband für Internationale Politik und Völkerrecht e. V. Berlin (VIP)
URL: http://www.vip-ev.de/text402.htm

Zur Person des Autors:
Klaus Kukuk, 1968 Mitarbeiter an der DDR-Botschaft in Prag, war nicht nur Zeit- und Augenzeuge. Seit damals beschäftigt ihn die Frage, ob die militärische Intervention notwendig war. Vielleicht hätte es auch Möglichkeiten gegeben, die eingeleiteten Reformen zu einem erfolgreichen Abschluss zu führen und nicht, wie geschehen, abrupt zu beenden? Oder handelte es sich überhaupt nicht um Reformen, sondern um eine Konterrevolution? Seit Jahrzehnten forscht er dazu in Archiven. Entdeckt hat er eine Vielzahl von unbekannten Belegen und unbeachteten Dokumenten, die ein Bild von der tatsächliches Lage in der Tschechoslowakei zeigen. Die Situation war weitaus dramatischer, als damals und heute bekannt war. Es roch nach Krieg.
Veröffentlichungen:
Prag 1968: Unbekannte Dokumente. Mit einer Einleitung von Horst Schneider von Klaus Kukuk (Hsg) von Das Neue Berlin (15. August 2008)
– Wir riefen Moskau zu Hilfe von Vasil Bilak und Klaus Kukuk (1. Januar 2006)